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© Joachim Noller 2014/2016

 

 

 

Joachim Noller

 

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Michel Butor, Votre Faust und der Sinn „mobiler Strukturen“

 

 

Beim vorliegenden Text handelt es sich um die überarbeitete Fassung eines Vortrags, der am 23. März 2013 auf dem Symposium „Empört Euch! Mitsprache in Votre Faust von Pousseur/Butor - Utopie oder Vision?“ im Berliner Kunstquartier Bethanien gehalten wurde. Anlass war die Neuinszenierung von Votre Faust im Radialsystem Berlin (Premiere am 30. März 2013) sowie im Schauspielhaus Basel.

 

Als ich vor Jahren einen enzyklopädischen Artikel[1] über Henri Pousseurs und Michel Butors Oper[2] Votre Faust schrieb, stand die Autorenschaft des Komponisten im Vordergrund. Heute interessiert mich vor allem die Arbeit desjenigen, den man traditionellerweise den Librettisten nennen würde, also die Arbeit Butors, weil dieser eben nicht nur die Rolle des Librettisten übernahm, sondern eines Ideengebers und Gestalters, der das ganze kulturelle Umfeld im Auge hatte, sich den ästhetischen Tendenzen widmete und sie künstlerisch fruchtbar zu machen verstand, der Grenzen überschritt, das Verhältnis verschiedener Künste zueinander untersuchte - Literatur, Musik und Malerei - und dabei auch hier nicht in analytischer Betrachtung stehenblieb. Ich versuche, einige Gedanken des frühen Butor auf Votre Faust zu beziehen, dabei geht es mir auch darum, wie die Neuerung einer variablen Form in größeren, eben nicht nur musikalischen Zusammenhängen zu verstehen ist.

In der Entstehungsgeschichte von Votre Faust fällt auf, dass eine Text­fassung (wohlbemerkt mit zahlreichen Angaben zur musikalisch-akustischen Gestaltung) schon 1962 erschien[3] (1961-68 wird bekanntlich als Entstehungszeitraum der Oper genannt). Noch bemerkenswerter ist, dass eine deutsche Übersetzung schon 2 Jahre später, also 1964, veröffentlicht wurde[4]. Den Namen Pousseurs wird damals kaum jemand im deutschen Sprachraum - abgesehen von wenigen Insidern der Neuen-Musik-Szene - gekannt haben. Besagtes Buch mit dem Titel Euer Faust. Variables Spiel in Art einer Oper ist Teil einer äußerst verdienstvollen Publikationsserie, die im Laufe der 60er Jahre, übersetzt und quasi herausgegeben von Helmut Scheffel, im Münchner Biederstein-Verlag erschienen ist und das deutschsprachige Publikum mit mehreren Werken Butors bekannt machte. Dass Votre Faust hier - in fremder Sprache - als Einzelpublikation Beachtung fand, zeigt uns: man hat die Bedeutung im Gesamtschaffen des französischen Literaten schon damals erkannt. Dass der Untertitel mit der Angabe Vorläufige Fassung endet, relativiert den Wert dieser Publikation keinesfalls, da jede Fassung dieses Werks als vorläufig gilt[5]. Aber mit diesem Text wird das Werk der Öffentlichkeit vorgestellt, und auch wenn noch keine Opernpartitur vorliegt, ist der akustische Plan doch in der Art einer imaginären Oper oder eines musikalischen Hörspiels derart eingewoben, dass man als Leser in die Lage versetzt wird, ein Hörerlebnis zu imaginieren.

 

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Welche poet(olog)ischen Überzeugungen sind es, die einen Literaten veranlassen, mit einem Komponisten zu kooperieren? Was bringt er in diese Arbeit ein? Konkreter gefragt, d.h. auf unseren Fall bezogen: wie verstehen sich die künstlerischen Zwischenergebnisse aus der Perspektive Butors, beginnend mit jener ersten Fassung?

Butor geht aus von der Erneuerung des Romans, aber die dabei vollzogenen Erkenntnisse lassen sich unschwer verallgemeinern. 1955 schreibt er über den Roman „comme recherche“, treffend übersetzt: den Roman als Suche, und hebt die Notwendigkeit neuer Formen hervor, die sich auszeichnen durch eine gewisse Strenge und „innere Kohärenz im Vergleich zu anderen Formen“[6]. Diese neuen Formen entstünden nicht um ihrer selbst willen. „Die formale Neuerung im Roman, weit davon entfernt, im Gegensatz zum Realismus zu stehen, wie eine kurzsichtige Kritik allzuoft meint, ist gerade die Bedingung sine qua non eines weiter vorangetriebenen Realismus“[7]. Doch dieser Realismus widerspricht den Vorstellungen, mit denen der Begriff üblicherweise verknüpft wird. Das Verhältnis des im Roman Dargestellten zur sogenannten Wirklichkeit sei symbolischer Natur, also weit entfernt von klischeehafter Abbildlichkeit (dem Schema Basis und Überbau etc.): „Ich nenne ‚Symbolismus‘ eines Romans die Gesamtheit der Beziehungen der in ihm beschriebenen Wirklichkeit zu der Wirklichkeit, in der wir leben“[8]. Butor bereitet seine Leser darauf vor, dass neue Formen, die sehr streng sein können, auf eine äußerst kodifizierte Weise realitätshaltig sind.

5 Jahre später, also 1960, publiziert er einen Aufsatz, in dem dieses Denkprinzip ohne Abstriche auf die Tonkunst übertragen wird: auch die Musik möge eine realistische Kunst sein[9]. Der Missachtung solch „inhaltlicher“ Aspekte in der musikalischen Theorie scheint die Missachtung formaler Aspekte in der literarischen, vor allem der Roman-Theorie zu entsprechen. Die Diskussion vollzog sich zunächst vor dem Hintergrund marxistischer Polemiken zwischen als reaktionär geltenden formalistischen und als orthodox geltenden realistischen Positionen. In der Nachkriegszeit versuchten politisch engagierte, um sprachliche Erneuerung bemühte Künstler und Intellektuelle, diesen Antagonismus zu überwinden, in der Überzeugung, dass sich Formalismus und Realismus nicht unversöhnlich gegenüberstünden[10], und Butor stimmte intuitiv darin mit ihnen überein. Andere gingen solcher Dialektik aus dem Weg; sie waren auf technische Neuerungen fixiert oder schienen es gemäß eigener Darstellung zu sein. Butor forderte dagegen den Bezug zur Realität und er forderte es auch in der Tonkunst. Allerdings wäre dieser Bezug undenkbar ohne formale Konsequenzen, und im Aufsatz von 1955 deutet sich schon im Titel an, dass besagte Form zwar streng sein kann, aber nicht starr: le roman comme recherche, der Roman als Suche. Was sich also ergibt, ist kein fertiges Modell, sondern ein prozessualer Charakter neuer Formbildung, Formen, die sich allmählich herausbilden, ein Prozess, der auch dann Sinn macht, wenn er kein definitives Ziel erreicht.

Schließlich führen diese Gedanken Butor zur Forderung (wie er sich ausdrückt) mobiler Strukturen, quasi als Krönung einer Poetik des neuen Romans: „mehrere Lesewege“ müssten möglich werden. Eine höhere Mobilität als je zuvor sei denkbar, bei der der Leser mitverantwortlich für das würde, „was in dem Mikrokosmos des Werkes, dem Spiegel unserer conditio humana, geschieht, natürlich zu einem großen Teil ohne daß er davon etwas weiß, so wie auch in der Realität, wobei jeder seiner Schritte, seiner Entscheidungen Sinn gewinnt, solchen stiftet und ihn über seine Freiheit aufklärt. Eines Tages werden wir sicher dahin gelangen“[11]. Diese Zeilen werden auf Französisch anno 1963 publiziert; mobile Strukturen erscheinen hier, mit dem letztzitierten Satz, fast als utopische Zukunftsmusik. Umso mehr fällt ins Gewicht, dass ein Jahr zuvor das variable Spiel in Art einer Oper erschienen ist, gekennzeichnet durch die Einführung einer mobilen Struktur. Man könnte meinen, die Oper führe Butor in jenes Neuland, das zu betreten ihm in seiner eigenen Kunst schwerfällt.

Jedenfalls weist die variable Form von Votre Faust einen Weg, auf dem Formalismus und Realismus zusammengeführt werden; es ist eine Form, die neu ist, eine Form, die sich der Realität öffnet, eine Form, die nicht erstarrt, eine Form, die sich verändern kann, aber trotz aller Mobilisierung eine Form, die man als solche zu bezeichnen hat. Ziel ist nicht die Destruktion der Form, Ziel ist kein Informalismus. Und hier – denke ich – stimmt Butor mit Pousseur, aber auch mit einem anderen bedeutenden Meister aleatorischen Komponierens überein. Ich spreche von Bruno Maderna, der im Übrigen fast zur gleichen Zeit wie unsere beiden Protagonisten sein opus maximum für das Musiktheater schreibt: Hyperion entsteht wie Votre Faust in einer langen Zeitspanne von Anfang bis Ende der 60er Jahre. Die offene Form – schreibt der Italiener 1965 – sei „ein notwendiges Abenteuer“ zeitgenössischer Kreativität, eine wichtige, aber eben auch gefährliche Errungenschaft, „denn diese Manipulation des Unvorhersehbaren muss zum Aufblühen von Schönheiten führen, die der Komponist vielfältig und unaufhörlich neu haben wollte: zu einer Glorifizierung der Form also, und nicht zu deren Negation. Ich bin gegen die Formen, die gegen die Formen sind“[12]. Das Plädoyer für formale Vielfalt ist auch hier von informalistischen Tendenzen klar zu unterscheiden. In Übereinstimmung mit dem Opera-aperta-Begriff von Umberto Eco bringt die formale Öffnung, als Folge dialektischer Negation, neue Ordnungsvorstellungen hervor; schließlich ist es Maderna selbst, der als Dirigent in jeder einzelnen Aufführung Formbildung zu Ende führt.

 

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Im Bereich der Musik macht sich Butor um 1960 recht konkrete Gedanken, wie eine offene Form aussehen, bzw. wie sie sich anhören könnte. Modell steht ihm dafür Strawinskys kompositorische und musikdramaturgische Entwicklung mit dem Wendepunkt von The Rake‘s Progress, einer Oper, die 1951 fertiggestellt wurde: der Komponist habe damals vor der Notwendigkeit gestanden, „einen höheren Organisationstypus zu schaffen, innerhalb dessen alle historischen und geographischen Farben, mit denen umzugehen er so geduldig gelernt hatte, zur Wirkung kommen konnten. Es ist infolgedessen vollkommen verständlich, wenn Strawinsky nach The Rake’s Progress sich des seriellen Systems bemächtigt“[13]. In dieser Interpretation bekommt die Serialität eine integrative Funktion; sie soll die bis dato entwickelten und zur Anwendung gebrachten Elemente nicht verdrängen, sondern sie in einen neuen Zusammenhang bringen, sie miteinander verbinden[14]. Zu integrierende Elemente, das sind am Beispiel Strawinskys eine Ansammlung unterschiedlicher couleurs locales, vor allem aber die Intonation verschiedener Kompositionsweisen der Vergangenheit. Auf der Basis solch heterogenen Materials entsteht ein Stilgemisch, das es kompositorisch zu bändigen gilt; es bedarf einer Form, die sich durch ihr heterogenes Innenleben öffnet, andererseits aber auch den Zusammenhalt garantiert, einer Form mit zentrifugalen Eigenschaften, denen der Komponist Zentripetales entgegensetzen muss. Hier spricht Butor ein zentrales Problem an, mit dem Pousseur in der Komposition von Votre Faust jahrelang befasst sein wird. Mit Maderna könnten wir die Frage stellen, inwieweit Votre Faust in seiner Materialdisposition die Möglichkeit überzeugender Formbildung suggeriert.

Wir werden an dieser Stelle keine Antwort geben, kehren in aller Bescheidenheit wieder zurück zu jener vorläufigen Fassung, die in deutscher Übersetzung aus dem Jahr 1964 vorliegt. Wie schon angedeutet, geben die Autoren klare Anweisungen zur akustischen Gestaltung, in der Art eines musikalischen Hörspiels. Prototypisch ist die Szene I, in der der Protagonist und Komponist Henri sich mit der Zweiten Kantate, dem letzten vollendeten Werk Anton Weberns, auseinandersetzt sowie mit Richard und dem Theaterdirektor über das Opernprojekt Faust redet.

In der Szene gibt es mehrere Episoden dodekaphon-serieller Art, zunächst wird Weberns Kantate, ein Musterwerk zwölftönigen Komponierens, intoniert und zur Sprache gebracht, dann demonstriert der Theaterdirektor Reihentransformationen, zum Schluss wird darauf hingewiesen, dass die letzten Takte der Szene „eine genaue Umkehrung“[15] dessen seien, was am Anfang erklungen ist. Das Serielle gleicht einer Rahmenstruktur, in die nunmehr andere Hörmotive eingelegt werden, Motive, die sehr realistisch sind und teilweise wiederkehren, so wird am Anfang der Szene in die Klangwelt Weberns folgendes „intarsiert“: „das Üben einer Geige. Das Hämmern eines Schusters. Das Zuschlagen einer Tür. Das Schellen einer Türklingel. Ein Fetzen Tanzmusik“[16]. Man könnte also eine artifiziell-ästhetische Ebene von einer anderen unterscheiden, die vordergründig Reales konnotiert. Was Butor bei Strawinsky andeutet, gilt m.E. auch hier: die ästhetisch-serielle Gestaltung schafft einen Zusammenhang und verbindet heterogene Elemente, die in Votre Faust jedoch keine historische, sondern eher eine Alltags-Realität evozieren. Im Übrigen können die Ebenen trotz funktioneller Trennung auch ineinanderfließen, z.B. wenn der Sänger der Webern-Kantate zum Straßensänger mutiert. Außerdem besitzt die artifiziell-ästhetische Seite selbst eine realistische Komponente, wird doch in dieser Szene dargestellt, wie ein avantgardistischer Komponist um 1960, der Webern-Nachfolge verpflichtet, sich damit abmüht, bloßes Nachahmen zu vermeiden. Es ist die Darstellung von Pousseurs kompositorischem Alltag. Man könnte resümieren: auch das artifiziellste Element ist Teil einer Wirklichkeit und es wäre falsch, es der Wirklichkeit kategorisch gegenüberzustellen.

Bei allen Überlegungen zur Form dürfen wir nicht vergessen, dass Butor davon überzeugt ist, an einem transformativen, an einem Formumbildungs-Prozess teilzunehmen. Was er 1955 über den Roman sagt, könnte – wie schon angedeutet - auf andere Kunstformen übertragen werden: künstlerische Arbeit dokumentiert momentan kein Resultat, sondern die Suche nach dem Neuen, die „Umwandlung der Form des Romans“, der sich „langsam aber unaufhaltsam […] zu einer neuen Art Dichtung entwickelt, die episch und didaktisch zugleich ist“[17]. Zu dieser Umwandlung gehört in den folgenden Jahren die – wie es Butor ausdrücken würde – Mobilisierung, eine bestimmte Öffnung der Form, die den Erneuerungsprozess katalysieren soll. 1953 hat Butor einen Aufsatz mit dem Titel Die Alchemie und ihre Sprache verfasst[18], wo es u.a. um die geheimnisumwitterten metallurgischen Prozesse der Alchemisten und ihre geistige Bedeutung geht. Wenn wir solches mit etwas Phantasie auf Votre Faust übertragen: das heterogene Stilgemisch und die Hoffnung, dass aus dem Gemisch eine wahre Synthese entstünde, ein anderes, ein neues Material von einer Beschaffenheit, die im Stilgemisch noch nicht enthalten war, vielleicht steckt hinter der variablen Form und ihrer rationalen Erklärung etwas von diesem alchemistischen Glauben.

 

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In der von uns schon mehrfach zitierten Szene I des Ur-Votre-Faust spielt Henri aus dem Klavierauszug von Weberns Zweiter Kantate. Sein Freund Richard kommentiert das abschätzig: „Immer dasselbe. Du bist wirklich nicht sehr abwechslungsreich“. Henri verteidigt sich: „Ich entdecke darin immer wieder etwas Neues. Augenblicklich untersuche ich gerade die Beziehungen zwischen den Worten und der Musik. Das ist toll“[19]. Und das ist nicht nur Pousseurs Stimme, auch sein Librettist hält dem Pseudo-Webern-Kult Darmstädter Serialisten eine sinnvolle Auseinandersetzung mit Webern, vor allem mit Wort-Ton-Beziehungen entgegen, beleuchtet damit einen Bereich, der von der musikalischen Avantgarde über Jahre hinweg unterschätzt, wenn nicht gar ignoriert wurde. Nun scheint Butor, wenn er von der Wort-Ton-Beziehung im Allgemeinen und den besonderen Möglichkeiten der Gegenwart spricht, a prima vista bestimmten Konventionen zu entsprechen, Konventionen einer literarischen Sichtweise: Von der Musik heißt es, „daß sie bis zum Text gelangen kann, daß das sogar ihr Wunsch ist, daß sie dieses noch nicht existierende Wort erwartet“[20]. Die Musik - so jedenfalls ließe sich daraus folgern - erfährt ihre Veredelung, wenn nicht gar ihre Vollendung, zumindest aber ihre höchstmögliche Ausformung durch das Wort. Wir könnten nun sagen, was ist von einem Wortkünstler auch anderes zu erwarten?

Doch Butor beabsichtigt nicht, die Klangkunst zu verdrängen oder sie durch Worte zu ersetzen. In folgendem Satz ist ein kleines gesamtkünstlerisches Programm enthalten: „von Anbeginn lernt das Ohr mit Hilfe des Auges zu verstehen, gelangt vom Schrei zum Wort“[21], und dieser Weg vom Schreien zum Sagen ist metaphorisch zu verstehen. Das Hören endet nicht im Wort, es erreicht aber eine sprachliche Ebene, indem es zu begreifen lernt. An anderer Stelle schreibt Butor, es gebe Klangobjekte, die fast Worte seien: „das Schlagen einer Tür, ein Zitat von Haydn“[22]. Das sind Zitate aus der alltäglichen oder historischen Klangwirklichkeit, wie sie (dazu siehe oben) in Szene I von Votre Faust oder - gemäß Butors Interpretation - in Stawinskys Rake‘s Progress vorkommen. Deren Sinn ließe sich demnach nicht nur an realistischen Eigenschaften, sondern auch, wenn nicht gar noch mehr, an ihrem Sprachcharakter festmachen. Wenn Hörmotive „fast Worte“ sind, nehmen sie eine dementsprechende Bedeutungsqualität an, die als solche erkennbar wird. In diesem metaphorischen Sinn kann sich Butor keine anspruchsvolle Musik ohne Worte vorstellen, so wie sich eine Wortkunst ohne musikalische Qualitäten ebenfalls als defizitäre Angelegenheit herausstellen würde.

 

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Man begreift, schreibt Butor, „welche Rolle die Instrumente spielen, wie die von ihnen hervorgebrachten Töne die Funktion der Töne des Sängers verändern, den Raum verformen, in dem das Wort ausgesprochen wird und dessen Eigenschaften verwandeln“[23]. Dessen Eigenschaften verwandeln, das heißt hier nicht nur, dass vertonte Worte anders sind als unvertonte, sondern dass musikalische Überformung dem Literaten hilft, eine andere Literatur zu finden, bescheidener ausgedrückt, auf der Suche („Der Roman als Suche“) ein Stück weit voranzukommen. Musik wird dem Literaten zur „Höhle, in der die Waffen und Instrumente einer neuen Literatur geschmiedet werden können“[24]. Man darf daraus folgern, dass die Zusammenarbeit mit einem Komponisten in erster Linie nicht in der Liebe zur Musik oder zum Musiktheater begründet liegt, sondern in der pointiert gesagt: egoistischen Suche nach neuen literarischen Formen, neue Literatur aus dem Geiste neuer Musik. Votre Faust, das ist für Butor ein Schaffensstadium, in dem er von der Musik einen progressiven Schub erwartet für seine eigene Kunst. Das künstlerische Programm richtet sich jedoch auch (in chronologischer Hinsicht: zuerst) an den Tonsetzer, der die Vorbildlichkeit musikalischer Formen unter Beweis stellen muss. Demnach sollten die ästhetischen Forderungen vor allem (d.h. vor allen anderen Künsten) in der Tonkunst selbst verifiziert werden. Le roman comme recherche setzt also la composition comme recherche voraus.

Kehren wir nochmals zurück zu dem Zitat, wonach Instrumentaltöne „den Raum verformen, in dem das Wort ausgesprochen wird und dessen Eigenschaften verwandeln“ (siehe oben). Verwandelt werden Eigenschaften eines Stücks Literatur. Diese Literatur erhält urplötzlich – ungeachtet ihrer ursprünglichen Anlage – eine variable Form. Unterschiedliche Vertonungen desselben Textes müssten daher Butors besonderes Interesse wecken: in logischer Konsequenz wären es Stationen einer variablen Form. Anders gesagt: jeder Komponist bricht mit der definitiven Gestalt des Textes, öffnet sie, negiert damit aber nicht den Text (sofern dieser etwas zu sagen hat), sondern schreibt ihn fort, bringt ganz unterschiedliche Facetten (vorher nur Impliziertes, scheinbar Nebensächliches etc.) zur Geltung. Aufschlussreich ist, wie Butor anno 1961 Pierre Boulez‘ Mallarmé-Vertonungen beschreibt. Ihre Musik berge „ganz außergewöhnliche beschreibende und erzählerische Möglichkeiten“[25]. Damit unterstreicht er, dass die Wort-Ton-Verbindung Sinnhaftes anders als der bloße Text zur Geltung zu bringen vermag. Boulez‘ Mallarmé-Vertonungen, die von Butor als ein Werkkomplex verstanden werden, erscheinen als expressiv-formale Fortentwicklung von Mallarmés Literatur. Butor hebt hervor, dass einzelne Werkteile (anno 1961) nicht in definitiver Gestalt vorlägen, sondern weitere Überarbeitungen vorgesehen seien. Der Literat ist fasziniert von der „fortschreitende(n) Entwicklung. Beim jetzigen Hören kann man der Versuchung nicht widerstehen, sich eine Vorstellung von den zukünftigen Fassungen zu machen; die Phantasie des Beiwohnenden wird damit auf höchst bemerkenswerte Weise angeregt“[26]. Letztlich werden also alle Boulezschen Mal­larmé-Kompositionen als ein großes Werk in variabler Form beschrieben. Aus heutiger Sicht ist unübersehbar, wie Butor seine eigene Poetik auf Boulez‘ Klangformen projiziert. Er will uns zeigen, wie die Werkstatt des Musikers Instrumente hervorbringt, die auch literarischer Innovation zu Diensten stehen, was abermals die Bedeutung unterstreicht, die der Arbeit an Votre Faust für sein eigenes Schaffen zukommt.

 

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Fokussieren wir ein letztes Mal auf den ästhetischen Kerngedanken dieses Essays: Was faszinierte an den mobilen Strukturen, wie sie Butor nannte, damals um 1960, was könnte uns heute faszinieren. Hat die variable Form wirklich eine Erneuerung nachhaltig promoviert? Hat sie den Rezipienten aus seiner angeblichen Passivität befreit? Worin liegt ihr Wert jenseits ideologischer Kurzschlüsse?

Ich glaube, dass Friedrich Schillers Rede vom Spiel und vom Spieltrieb uns einiges lehren könnte über den Sinn variabler Formen, ante litteram. Spiel: das ist hier nicht der Gegensatz von Ernst, sondern eine dialektische Synthese[27]. Auf der einen Seite gebe es den Formtrieb, und dessen Gegenstand sei die Gestalt: „ein Begriff, der alle formalen Beschaffenheiten der Dinge und alle Beziehungen derselben auf die Denkkräfte unter sich faßt“[28]. Auf der anderen Seite gebe es den sinnlichen Trieb, und dessen Gegenstand sei das Leben, doch dafür findet auch ein anderer Begriff Verwendung: Realität, was der Poetik Butors schon näher kommt. Und wie gelingt es nun, die beiden Seiten zu koordinieren? Der Spieltrieb ist es, der „das doppelte Gesetz der absoluten Formalität und der absoluten Realität“[29] zu verwirklichen hilft. Der Spieltrieb wird „Form in die Materie und Realität in die Form bringen“[30]. Der Spieltrieb – selbstverständlich in diesem vom Umgangssprachlichen distanzierten Sinn - schafft es, den Formalismus mit dem Realismus zu versöhnen, ohne dass eines dem andern geopfert wird. Und dieser Trieb erfüllt seine kulturelle Aufgabe – davon ist Schiller zutiefst überzeugt - auf der Basis ethischer Verantwortung. Ich denke, die Aktualität solcher Denkweise für spielerische und gleichwohl ernst zu nehmende Formen avantgardistischer Kunst ist evident.

 

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Experimentelle Kunstwerke des 20. Jahrhunderts stehen heute auf dem Prüfstand. Auch unser Verständnis müsste dabei variable Formen annehmen. Wir hören etwas wieder und kommen nach vielen Jahren zu einem ganz anderen Werturteil, und dies soll möglichst frei sein von ästhetischen und ideologischen Zwängen. Der Sinn einer Wiederaufführung[31] ist durch diesen geistig-kulturellen Gewinn gegeben und bedarf nicht der Entdeckung bislang verkannter Meisterwerke.

 

 

 

 

 

 

 




[1] Joachim Noller, Henri Pousseur: Votre Faust, in: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, hg. v. Carl Dahlhaus und dem Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth unter Leitung von Sieghart Döhring, Bd. 5, Piper, München/ Zürich 1994, S. 65-67.

[2] Warum sollten wir heute, nach den Querelen des 20. Jahrhunderts, nicht diesen historisch übergreifenden, zur inklusiven Darstellung durchaus geeigneten Gattungsbegriff verwenden?

[3] Michel Butor/ Henri Pousseur, Votre Faust: fantaisie variable genre opéra, Gallimard, Paris 1962. Teile und Varianten von Votre Faust erschienen 1962-63 auch in verschiedenen Zeitschriften (detaillierte Angaben in der Website http://henri.desoubeaux.pagesperso-orange.fr).

[4] Dies., Euer Faust. Variables Spiel in Art einer Oper. Vorläufige Fassung, Deutsch von Helmut Scheffel, Biederstein, München 1964.

[5] In der Edition seines Gesamtwerks hat Butor eine Fassung von Votre Faust gewählt, die 1977 zweisprachig (französisch/ italienisch) in Reggio Calabria publiziert wurde, siehe Butor, Œuvres complètes, hg. v. Mireille Calle-Gruber, Bd. VIII: Matière de rêves, Éditions de la Différence, Paris 2008, S. 927 ff.

[6] Butor, Der Roman als Suche, in: ders., Die Alchemie und ihre Sprache. Essays zur Kunst und Literatur, aus dem Französischen von Helmut Scheffel, Fischer, Frankfurt a.M. 1990, S. 56.

[7] Ebd., S. 57.

[8] Ebd., S. 58.

[9] Ders., Musik, eine realistische Kunst, ebd., S. 111 ff.

[10] Siehe Noller, Engagement und Form. Giacomo Manzonis Werk in kulturtheoretischen und musikhistorischen Zusammenhängen, Peter Lang, Frankfurt a.M. etc. 1987, S. 57 ff.

[11] Butor, Untersuchungen zur Technik des Romans, in: ders., Repertoire 2: Probleme des Romans, Deutsch von Helmut Scheffel, Biederstein, München 1965, S. 77 f. Dieser Abschnitt trägt die Überschrift „Mobile Strukturen“, Butors historisches Beispiel ist Balzacs Comédie Humaine.

[12] Bruno Maderna, La révolution dans la continuité, in: Preuves 177, 1965, S. 28 f.

[13] Butor, Musik, eine realistische Kunst, S. 128.

[14] Serialität meint hier also weniger die auf Zwölfton- und anderen Reihen basierende Kompositionsmethode an sich, vielmehr daraus gezogene Konsequenzen unter Betonung inklusiver, nicht exklusiver Eigenschaften.

[15] Butor/ Pousseur, Euer Faust, S. 17.

[16] Ebd., S. 13.

[17] Butor, Der Roman als Suche, S. 60.

[18] Ders., Die Alchemie und ihre Sprache, in: ders., Die Alchemie…, S. 13 ff.

[19] Butor/ Pousseur, Euer Faust, S. 13.

[20] Butor, Musik, eine realistische Kunst, S. 122.

[21] C’est dès l’origine avec l’aide de l’œil que l’oreille apprend à comprendre, que l’on passe des cris aux mots“ (Butor, Répertoire III, Les Éditions de Minuit, Paris 1968, S. 392).

[22] le claquement d’une porte, une citation de Haydn“ (ebd. S. 390).

[23] Butor, Musik, eine realistische Kunst, S. 120.

[24] Ebd., S. 122.

[25] Ders., Das Mallarmé-Porträt von Pierre Boulez, in: ders., Die Alchemie…, S. 143 f.

[26] Ebd., S. 145.

[27] Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, vierzehnter und fünfzehnter Brief, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 5, Hanser/ WBG, München/ Darmstadt 91993, S. 611 ff.

[28] Ebd., S. 614.

[29] Ebd., S. 617.

[30] Ebd., S. 613.

[31] Bei der Aufführung von Votre Faust anno 2013 im Berliner Radialsystem wurde die Bedeutung der Musik unter Beweis gestellt, leider hat die Inszenierung den Sinn mobiler und anderer Strukturen auf phantasielose Art verfehlt.