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© Joachim Noller 2006

 

 

Joachim Noller

 

Alejo Carpentier und die Globalisierung des Musikdenkens

 

Den Lehrern Kubas gewidmet

 

Musik ist nicht selten Gegenstand belletristischer Literatur, gegenständlich im weitesten Sinn: musikalisiert wird das Sujet, aber auch die Struktur, also auf inhaltlicher und formaler Ebene. Man reflektiert über und auf die Tonkunst; und es mag nicht nur europäischer Anthropozentrik geschuldet sein, wenn solche Vielschichtigkeit in personalisierter Darstellung gleichsam zentriert wird. So begegnen wir Musikern und vor allem Komponisten, einen Musikforscher zum Protagonisten zu erheben, dürfte den meisten Autoren freilich kurios erscheinen, der Kubaner Alejo Carpentier (1904-1980) hat es getan: die Hauptfigur seines Romans Die verlorenen Spuren komponiert und forscht, wobei letztere Tätigkeit im Vordergrund steht. Und wie in anderen Romanfiguren spiegelt sich auch hier die Lebensgeschichte des Autors: Carpentier war ein Enzyklopädist, der sich mehreren Künsten verpflichtet sah und dabei, im steten Bemühen um kulturelle Zusammenhänge, kaum in einen Interessenkonflikt geriet. Das geistige Fundament wurde in seiner Familie gelegt, auch die Prima-la-musica-Haltung könnte daher stammen: die französische Großmutter sei Klavierschülerin von César Franck gewesen, während der Vater, „der vor Beginn seiner Architektenlaufbahn Musiker werden wollte“, Cello-Unterricht bei Pablo Casals genommen habe[1]. Zeitlebens stellte Carpentier seine Sprachfähigkeiten in den Dienst neuer und alter Klangkünste[2]; und bevor er sich um die Jahrhundertmitte als Schriftsteller etablierte, entstanden Abhandlungen und Kritiken zur Musik sowie Libretti (u.a. für Edgard Varèse: das Projekt blieb unvollendet), förderte er die musikalische Kultur als Konzertveranstalter sowie im Radio, wo ihn jenseits bloßer Vermittlertätigkeit neue künstlerische Möglichkeiten der Wort-Ton-Verknüpfung, eines radiophonen Hörtheaters zu interessieren begannen, mit spezifischen Überlegungen zur Rolle der Musik[3]. In welchem Ausmaß er selbst Noten zu Papier brachte, müßte noch untersucht werden, bezeugt ist seine Bühnenmusik für eine Pariser Inszenierung von Miguel de Cervantes‘ La Numancia anno 1937. Die europäische Erziehung, die Carpentier auf hohem Niveau in Kuba genoß, wurde im Pariser Exil von 1928 bis 1939 (seine Heimat verließ er politischer Umstände wegen) gleichsam intensiviert, als er dort mit den Theorien und künstlerischen Ausdrucksformen der Moderne konfrontiert war. Die Auseinandersetzung prägte Carpentiers Bewußtsein, führte aber auch zu kritischer Distanzierung; gerade in Paris wuchs sein Selbstverständnis als lateinamerikanischer Intellektueller. Auf dieser Suche nach eigener Identität (wenn auch nicht nur dadurch begründet) widmete er sich in den 40er Jahren intensiv der kubanischen Musikgeschichte und brachte seine Forschungsergebnisse 1946 zur Veröffentlichung: La música en Cuba[4], heißt es im Vorwort zur englischen Übersetzung von 2001, sei „among the most plagiarized masterpieces of the New World canon“[5]. Umfassende Musikkenntisse, mit kulturellen und existentiellen Konnotationen aufgeladen, befruchteten fortan sein literarisches Schaffen, flossen ein in sein erzählerische Werk, das als Zeugnis lateinamerikanischer Identität beachtet, darüber hinaus aber auch bald in den Kanon sogenannter Weltliteratur aufgenommen wurde[6].

 

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Im Vorwort seines 1949 erschienenen Romans Das Reich von dieser Welt[7] hält Carpentier den Europäern das „real maravilloso“[8], die wunderbare Wirklichkeit, das wirklich Wunderbare Amerikas vor Augen, wo dieses Wunderbare nicht konstruiert, nicht durch bemühte Imagination weit hergeholt sei, sondern real, in natürlichen wie kulturellen Gegebenheiten verankert. Er entwirft ein Bild von Lateinamerika, in dem magische Kräfte und mythologische Vorstellungen noch nicht wegrationalisiert sind, wo solche Urkräfte mit dem europäisch-modernen Rationalisierungsprozeß eine fruchtbare (in späteren Veröffentlichungen problematisierte) Verbindung einzugehen vermögen. Als Hauptmerkmal lateinamerikanischer Kultur erkennt er eine Heterogenität, die nicht künstlich herbeigeführt werde, wie in den Kunstwerken der Surrealisten, sondern historisch gewachsen sei. Amerika wird als Schmelztigel unterschiedlichster Kulturen, afrikanischer, indianischer und europäischer, vorgestellt. Das Wunderbare solch kultureller Mestizierung wahrzunehmen, wird dem Intellektuellen wie dem Künstler aufgetragen. Daß diese Gedanken auch in Reaktion auf die Pariser Kulturszene zwischen den Kriegen entwickelt wurden, in Auseinandersetzung mit dem Surrealismus, den Carpentier in Realem verankern, vom Kopf auf die Füße stellen wollte, daß er die Protokolle des Unterbewußten in seinem Amerika-Bild quasi objektiviert, ist höchst bemerkenswert.

 

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In einem Aufsatz zur neuen Radiokunst nennt Carpentier Musikstücke von Mendelssohn Bartholdy oder Borodin, die unterschiedliche Texte begleiten und dabei das Meer, die Wüste, den Orient evozieren sollen. Wenn mit dem Text universale Kulturwerte verbunden werden, fällt die Wahl auf Beethovens 5.Sinfonie, letzter Satz, „Prototyp universaler Musik“[9]. Was diese Universalität ausmachen kann, hat er in seinem Roman Die verlorenen Spuren zumindest angedeutet: „durch die Unterwerfung unter den Rahmen einer Fuge oder die Form einer Sonate“ werde Zeit beinahe zu einem Gegenstand[10]; von einem Menschenwillen, „der sich durch Gesten als ein ihren Ablauf bemessender äußert“, werde die Zeit „zusammengefaßt, eingeteilt, unterworfen“. In Partiturzeichen seien „Gebote von Menschen niedergelegt“, die weit über ihren Tod hinaus „Besitzrechte auf die Zeit behielten“[11]. Das lesen wir zu Beginn des Romans; am Ende ist abermals vom Tempus die Rede, aber auf einer anderen kategorialen Ebene: Aus der Zeit zu fliehen - so die Quintessenz - sei dem Künstler verwehrt; „in vollem Bewußtsein alles dessen, was bis heute geschaffen worden ist“, also im Bewußtsein des geschichtlichen Orts, müsse sein Tun vonstatten gehen[12]. Der Schlüsselbegriff heißt Zeit: das vollgültige Musikwerk entspricht der Zeit und traszendiert sie auch, es reflektiert natürliche Zeitabläufe und es verwandelt sie; Komposition ist Zeitbeherrschung, -gestaltung, -ordnung. In der Bewältigung menschlicher Zeitlichkeit (mit allen Konnotationen dieses Begriffs) könnte sich die Musik demnach für andere Künste als paradigmatisch erweisen[13]. Es geht jedoch nicht nur um literarische Erneuerung aus dem Geiste der Musik, sondern auch um Erweiterung reflexiven Bewußtseins sowie um kulturelle Bewältigung schlechthin: „Die inneren Gestaltungsmittel der musikalischen Schöpfung“ sollen mit den Worten des Romanschriftstellers erklärbar sein[14].

Wie in seiner Musikästhetik stehen in Carpentiers literarischer Poetik temporale Eigenschaften im Vordergrund. Er plädiert dafür, „die Regeln der traditionellen Zeitlichkeit in der Erzählung“ zu durchbrechen und eine der Stoffbehandlung angemessene Zeitgestaltung zu erfinden[15]. So wird der Roman Die Hetzjagd[16] von ihm selbst unorthodox als Sonatenform mit 3 Themen und 17 Variationen interpretiert[17], darüber hinaus ist das Geschehen an die Dauer von Beethovens 3.Sinfonie gekoppelt. Doch auch andere Arten „mit der Zeit zu spekulieren“, die er in einzelnen Erzählungen und Romanen beispielhaft verwirklicht sieht, können durchaus von musikalischen Formen und Verfahren abgeleitet werden: eine „kreisförmige, zum Ausgangspunkt zurückkehrende Zeit“, „die verkehrte oder rückwärts laufende Zeit“, „das Gestern im Heute“ oder „eine Zeit, die um den Menschen kreist, ohne ihre Essenz zu verändern“[18].

Bei Carpentier finden sich musikalische Bezüge sogar im Bereich genuin literarischer Poetik. Er fordert das epochale Sujet, möchte seine Leser mit „kollektiven Ereignissen ihrer Epoche“, mit dem „Widerschein des Lebens“ in dem sie stehen, konfrontieren[19]. Auf Musik scheint dieses Postulat schwer übertragbar. Doch Carpentier lädt das Tonkunstwerk mit assoziativen Hörerlebnissen auf und erhält so das musikalische Epos: in den verlorenen Spuren wird Beethovens 9.Sinfonie auf epochale Ereignisse (nicht der Zeit Beethovens, sondern des fiktiven Hörers) bezogen, indem der Musikologe-Komponist mit den einzelnen Sätzen autobiographische Lebensbilder verbindet: Eltern und Kindheit, des Vaters Sehnsucht nach Europa, seine, des Sohnes Reise ins faschistische Europa („die in Beethovens Scherzo so häufig gerührten Pauken gewannen schicksalhafte Aussagekraft, als ich sie mit jener [Totentanz-] Darstellung im Beinhaus von Blois zusammenhielt“[20]), seine Zeit als Militärdolmetscher im Krieg (assoziiert mit der Einleitung zum Chor: zerstückelte Themen, „Ruinensinfonie innerhalb der Sinfonie“[21]), Konfrontation mit dem Holokaust (gefangene KZ-Bewacher singen „Freude schöner Götterfunken“), zum Schluß ein „Jahrmarktsarsenal der ‚türkischen Musik‘, die im Prestissimofinale so pöbelhaft ausufert“[22]. Trotz radikaler Kulturkritik am gescheiterten Idealismus läßt sich die vom musikalischen Werk ausgehende Faszination nicht verhehlen. Auf der assoziativen Ebene wird Beethovens Sinfonie zu einem äußerst heterogenen Gebilde, von dem eine magische Kraft ausgeht. Etwas vom wunderbar Wirklichen oder real Wunderbaren Amerikas (siehe oben) scheint in diesem Musikwerk eines Deutschen auf problematische Weise, aber doch in großartiger Gestaltung präfiguriert. Dies gilt in noch stärkerem Maße - ohne kulturkritische Untertöne - für das Hörszenario, das Carpentier für Beethovens 3.Sinfonie, die „Eroica“, entfaltet (so zu lesen im Roman Die Hetzjagd): „Als wären ganz verschiedene Stücke nacheinander aufgenommen worden“, folgt einem Militärmarsch, der dann doch keiner ist, etwas Traurig-Monotones, ein fröhlicher Tanz, militärische Klänge (Assoziation: Dokumentarfilm mit Adligen bei einem Eröffnungsgottesdienst zur Jagd), hüpfende Musik (Assoziation: Kinderspielzeug mit hämmernden Figuren), Walzertakte, majestätische Blasinstrumente, schlußendlich ein fröhliches Durcheinander[23]. Carpentier beschreibt diese Musik, als käme sie aus dem frühen 20.Jahrhundert: Frankreich, Le Six, Erik Satie, Alberto Savinio, eine parataktische Struktur, eine Serie von Klangbildern, oft abrupt unterbrochen, ein Spiel mit Allusionen. Noch größer ist hier die Heterogenität, noch stärker die Magie, die diese Musik im Roman auf den Protagonisten (einen politisch Verfolgten in seinem Versteck) ausübt, noch deutlicher der Verweis auf das real Wunderbare im Sinne des Autors, das in Lateinamerika zur Blüte kommen soll, und doch verwurzelt scheint in Europa. Europäische Musik erscheint hier als Symbol oder symbolische Antizipation wunderbarer Wirklichkeit. Während aber dieselbe hier im Blochschen Sinne utopisch erscheint, wird deren Verifizierung in Lateinamerika anderenorts expliziert. Schon in Música en Cuba deutet Carpentier an, daß die Rhythmen von Strawinskys Sacre du printemps - für ihn das Schlüsselwerk der musikalischen Moderne schlechthin - in der Karibik nicht erfunden werden mußten („that in Regla [.. heute Stadtteil von Havanna] there were rhythms as complex and interesting as those created by Stravinsky“[24]). Im Roman, der den Titel von Strawinkys Komposition übernommen hat[25], ist eine der beiden Protagonisten Tänzerin, die es von Rußland über Paris nach Kuba verschlagen hat. Dort entdeckt sie in ländlicher Abgeschiedenheit Tanzformen, die einem heimlich gehegten Wunsch, Strawinskys Sacre zu choreographieren, Auftrieb geben. Was bei der Pariser Uraufführung in der tänzerischen Umsetzung neuer Rhythmen noch nicht gelungen war, soll hier mit Hilfe karibischer Tänzer, unter Einbeziehung ethnisch-nativer Bewegungsmodi realisiert werden. Dieses europäische Kunstwerk, seine künstlerische Disposition, stieße also in Lateinamerika auf Resonanz, fände daselbst (möglicherweise) seine Vollendung.

Carpentier strebt nicht nach einer Autonomisierung lateinamerikanischer Kultur, sein Ziel ist es, globale Zusammenhänge, Verbindungen, Analogien zwischen den Kulturen aufzudecken (in diesem konkreten Fall zwischen den Rhythmen der Karibik und jenen eines russischen Komponisten). Angesichts kultureller Parallelen räsoniert die Tänzerin, ob es nicht eine universale Kultur gäbe mit einigen wenigen Urvorstellungen, die allen Menschen verständlich wären[26]. Und in einem Carpentierschen Essay finden wir eine eigenartige Begriffsdefinition: „Kultur ist: das Sammeln von Kenntnissen, die es einem Menschen ermöglichen, über Zeit und Raum hinweg Beziehungen zwischen zwei gleichartigen oder analogen Realitäten herzustellen“[27].

 

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Im Jahre 1608 veranstalteten die Bürger der kubanischen Stadt Bayamo ein Freudenfest, als ihr Bischof aus der Gefangenschaft eines Piraten befreit worden war. Auf dem Markt und in der Kirche wurde mit Instrumenten unterschiedlicher Provenienz (europäisch, afrikanisch, indianisch) musiziert, für Carpentier ein historisches Konzertereignis, das vielleicht zum ersten Mal alle Klangelemente vereint habe, die die zukünftige Musik des Kontinents prägen sollten, und er schlägt unmittelbar den Bogen in die Gegenwart: „eine Musik, die sich am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in ihren ernsten wie auch populären und folkloristischen Ausdrucksformen durch die ihr eigene Dynamik einen Platz im Panorama der Weltmusik erobert“[28]. Mehrere Komponisten - genannt werden in diesem Zusammenhang u.a. die Kubaner Amadeo Roldán und Alejandro García Caturla[29], mit höchster Wertschätzung der Brasilianer Heitor Villa-Lobos - seien zwar von einem „folkloristischen Standpunkt" ausgegangen, doch im Bestreben - wie de Falla in Spanien und Bartók in Ungarn -, „sich von dem ‚Dokument‘, dem mit spitzem Bleistift bei volkstümlichen [..] Festen notierten Thema zu befreien, um sich eine eigene Ausdrucksweise zu erarbeiten“[30].

Carpentier intendiert zwar die Emanzipation lateinamerikanischer Musikwerke, hört diese aber immer im Vergleich mit den Polyphonien der Alten Welt. Lateinamerika bietet sich an als ‚Ort’ fruchtbarer Fortsetzung einer Tonkunst, die in Europa großgeworden und daselbst an ihre Grenzen gestoßen ist, d.h. sich zunehmend erschöpft hat. „The young Latin American composer turns his eyes to his own world. There, still fresh, virginal, are the themes that Milhaud has left for him; the primitive impulses that did not appear in The Rite of Spring; a polyrhythm in an unpolished state, which outpaces anything by the ‚advanced’ composers of Europe“. Demnach besetzen Amerikaner die Freiräume, die Europäer ihnen gelassen haben; daraus entstandene Werke gehören nicht zu einer alternativen, sondern zu der einen, gemeinsamen Musikgeschichte. Junge lateinamerikanische Komponisten befänden sich - das betont Carpentier - auf der Höhe ihrer, aber nicht nur ihrer Zeit: „responding in full sincerity to an order of concerns that has precisely been the product of the highest European culture of the last few years“[31].

Dem Exotismus hält Carpentier eine universalistische Konzeption entgegen; lateinamerikanische Elemente sollen in einer allgemeinen Kultur integriert werden[32], die jedoch in seiner Vorstellungswelt europäisch präfiguriert ist, da er musikalische Universalität in den Hauptwerken abendländischer Polyphonie zumindest virtuell angelegt sieht. Und darin gleicht er einem weltoffenen Deutschen oder Franzosen, dessen Globalisierungsstrategie außereuropäische Kulturen nicht mehr kolonialistisch unterdrückt, aber doch die eigene Perspektive beibehält. Auch die künstlerische Moderne, die den Eurozentrismus längst überwunden glaubt, kann diese Perspektive nicht ganz verleugnen. Der Innovationszwang manifestiert sich als Materialerweiterungszwang und führt auf gewundenen Wegen in das Klangreservoir außereuropäischer Völker; damit werden Avantgarde-Strategien am Leben gehalten. Carpentier ist zwar in viel höherem Maße Traditionalist, aber wenn er lateinamerikanische Kompositionen beschreibt oder imaginiert und dabei die Anwendung idiophoner Instrumente und entsprechender Rhythmen als charakteristisch hervorhebt, optiert auch er für das Hinzufügen, für die Erweiterungsstrategie.

 

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Umfassender, vor allem sinnfälliger als in musikologischen Abhandlungen oder kulturkritischen Essays (aber auch deutungsoffen) kommt das Verhältnis der Kulturen in den metaphorischen Sprachbildern fiktiver Prosa zur Geltung. In der Novelle Barockkonzert treffen illustre Personen im venezianischen Karneval aufeinander: Antonio Vivaldi, Domenico Scarlatti, Georg Friedrich Händel, außerdem ein Lateinamerikaner mit seinem schwarzen Diener Filomeno. Zusammen führen sie ein gewaltiges Concerto grosso auf, an dessen Ende Filomeno aus der Küche „eine Batterie von Kupferkesseln“ holt, die er „mit derartigen Einfällen an Rhythmen, Synkopen, Kontrasttönen“ traktiert, daß ihn die barocken Meister eine Zeitlang improvisieren lassen[33]: die Erweiterungsstrategie in literarischer Darstellung. Nach dem Schlußakkord dieses Concertos folgt etwas ganz anderes. Filomenos Blick fällt auf ein Gemälde, auf dem die Versuchung Evas durch eine dickleibige Schlange zu sehen ist. Der Schwarze nähert sich dem Bild „langsam wie aus Furcht, die Schlange könnte aus dem Rahmen springen“, schlägt dabei auf ein Tablett, fixiert die Anwesendenden, „als ob er eine seltsame rituelle Zeremonie feiern würde“, und singt eine Art Beschwörungslied, das mit dem Aufschrei „Die Schlange ist tot“ endet[34]. Hier repräsentiert sich die kulturelle Alterität im besonderen (mimetisches Verständnis) und im allgemeinen, mit einer mythologischen, magischen, rituellen Virulenz, die nicht in den europäischen Rahmen integrierbar scheint; und in der Gegenüberstellung von jazzig rhythmisiertem Concerto grosso und Beschwörungslied zeigt sich eine gespaltene Universalität, zeigt sich die wechselseitige Infragestellung universaler Wertigkeit. Im Roman Explosion in der Kathedrale[35] wird solche Infragestellung historisch in der Französischen Revolution und deren Auswirkung auf lateinamerikanische Kolonien verifiziert, als im Zeichen der Guillotine Gedanken an eine andere Aufklärung, eine andere Rationalität im Keime erstickt wurden. Wer nicht das verjazzte Concerto grosso, sondern das Beschwörungslied zum künstlerischen Modell erheben will, müßte solche Gedanken zur Entfaltung bringen.

 

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In den verlorenen Spuren werden, wie in keinem anderen Werk Carpentiers, Prinzipien des Musikdenkens thematisiert. Der Protagonist, ein aus Spanien stammender, inzwischen in den USA lebender Musikwissenschaftler und Komponist, der sich in der unbefriedigten Lage befindet, sound tracks für Werbefilme herzustellen, erhält von seinem ehemaligen Lehrer, dem Kurator des Organographischen Instituts (einer universitären Instrumentensammlung) den Auftrag, spezifische Instrumente aus dem Urwald Lateinamerikas herbeizuschaffen, womit die von ihm selbst schon in früheren Jahren aufgestellte Theorie magisch-rhythmischer Mimesis bewiesen, d.h. „die Entstehung des ursprünglichen rhythmischen Ausdrucks aus dem Wunsch, den Schritt der Tiere oder den Gesang der Vögel nachzuahmen“, hergeleitet werden soll[36]. Nach langer, ebenso beschwerlicher wie abenteuerlicher Reise findet er die Instrumente, doch das einst so große Interesse an ihnen wird durch andere Erlebnisse verdrängt: ursprüngliche, gleichwohl auf künstlerische Erfahrungen bezogene Musik hört er in der Natursinfonie des Urwalds, im „unaufhörlichen Mimetismus dieser Urnatur“[37] („Irgendwo probte jemand den Ansatz an einer Oboe. In den Tiefen eines Wildbachs brach eine groteske Trompete in Gelächter aus. Im Laub respondierten sich Tausende von Flöten in zwei verschiedenen Tonlagen“[38]). Musik in statu nascendi hört er auf einer Totenfeier, im Ritual eines „Beschwörers“, der - zwischen Kehlkopf- und Bauchstimme alternierend - sich vokaliter im undefinierbaren Bereich des nicht Gesprochenen noch Gesungenen bewegt. Dem Musikologen gelingt es aber nicht mehr, das Gehörte intellektuell zu verarbeiten, daraus irgendeine Theorie zu ziehen. Er ist tief beeindruckt von den neuen Klangerfahrungen, doch imaginativ kehrt er immer wieder zu den Klängen europäischer Tradition zurück: als er das Zeitgefühl fast verloren hat, sich aber wieder darauf besinnt, erschallt in seinem Kopf, als ob nur in solcher Musik Zeitlichkeit zum Ausdruck käme, „mit der brausenden Majestät all seiner Stimmen“ ein Kontrapunkt Palestrinas[39]. Geschwungene Linien in einer Palmblätterwand werden mit gregorianischen Gesängen assoziiert. Und schließlich fängt er - in einem Urwalddorf fern jeder Zivilisation - wieder zu komponieren an, läßt sich durch die Totenklage des „Beschwörers“ zu einer Threnodie anregen, in der ein Musikentstehungssprozeß kompositorisch dargestellt werden soll. Klangvorstellungen werden fast mühelos zu Papier gebracht, die Rede ist von einer Kantate, abermals von Gregorianik, einem Tropus von Compostela, alter kirchlicher Musik, orgelartigen Klängen, einer uns bekannten Orchesterbesetzung, der Text stammt aus Homers Odyssee; back to the roots, aber nicht zu lateinamerikanischen Wurzeln, sondern zu europäischer Klassizität.

Die Threnodie wird nicht vollendet, die Skizzen bleiben im Urwald, während ein Bergungstrupp den Komponisten, den Musikologen mit archaischen Instrumenten im Gepäck abholt: der unvollendete Gesang habe ihn „unfähig, noch einmal der zu sein, der ich gewesen bin, dem alten Weg“ zurückgegeben[40]. Die Erneuerung einer „müden Kultur in der Wiederbelebung einer von aller Vernunft unbeleckten Inbrunst“, das „Verlangen nach instinkthaften Energien, in dem zahlreiche Komponisten meiner Generation durch den übermäßigen Einsatz von Schlagzeugen die elementare Kraft primitiver Rhythmen wiederzufinden hofften“, wird nun heftig kritisiert. Zwischen den Kulturen scheint sich eine tiefe Kluft aufzutun. Die archaische Kultur ist demnach wahrnehmbar, aber nicht gedanklich zu durchdringen, da „kognitives, cartesianisches Denken“ keinen Erkenntniszugang in diese Welt gewährt[41]. Weder sind Kategorien vorhanden, um die andere Kultur (ethnomusikologisch) verständlich zu machen, noch um beide Kulturen (musikpoetologisch und tonkünstlerisch) zusammenzuführen. Kulturelle Parallelen oder Analogien (z.B. im vielfachen Verweis auf mittelalterliche Musik oder zwischen der Totenklage des Beschwörers und jener der Odyssee) erweisen sich als Projektion europäischer Vorstellungskraft. Der Universalitätsbegriff kehrt wieder zurück ins Surreale, in den Hoffnungsbereich des Unterbewußtseins. Die Globalisierung des Musikdenkens ist vorerst gescheitert.

Wie die Kluft sich in schizoider Psyche manifestieren kann, veranschaulicht eine andere Romanfigur. Der Protagonist im Sacre-Roman, das männliche Gegenüber der Tänzerin, ist Kubaner und lebt vorübergehend in Paris (in zahlreichen Aspekten Carpentiers alter ego). Kapitel 7 zeigt ihn auf der Suche nach musikalischer Identität, fasziniert von karibischen Rhythmen; aber dieselben taugen offensichtlich nicht in jeder Lebenslage, da er sich ein Kapitel später der Tristan-Oper von Wagner als klanglichem Aphrodisiakum bedient. In fiktionalem Diskurs stellt der Musikologe Carpentier eigene (Wunsch)Vorstellungen in Frage und damit zur Diskussion, woran die vergleichende und die am zeitgenössischen Schaffen interessierte Musikwissenschaft (bisweilen sisyphusartig wie der Protagonist der verlorenen Spuren) arbeitet.




[1] Alejo Carpentier zit.n. Hermann Herlinghaus, Alejo Carpentier. Persönliche Geschichte eines literarischen Moderneprojekts, München 1991, S. 8.

[2] In Kuba ist eine Auswahl seiner Musikschriften erschienen: Alejo Carpentier, Ese músico que llevo dentro, Selección de Zoila Gómez, 3 Bde., La Habana 1980; zu musikalischen Bezügen im Gesamtschaffen des Kubaners siehe Gabriel María Rubio Navarro, Música y escritura en Alejo Carpentier, Alicante 1999; siehe auch Elena Ostleitner, Christian Glanz (Hgg.), Alejo Carpentier: Jahrhundertgestalt der Moderne in Literatur, Kunst, Musik und Politik, Strasshof u.a. 2004, passim.

[3] Siehe Timothy Brennan, Introduction to the english edition, in: Carpentier, Music in Cuba, ed. by T. Brennan, translated by Alan West-Durán (= Cultural Studies of the Americas, vol.5), Minneapolis 2001, S. 14 ff.

[4] Carpentier, La música en Cuba, México 1946.

[5] Brennan, S. 1.

[6] Als einführende Gesamtdarstellung sei die Monographie von Hermann Herlinghaus empfohlen (siehe Anm.1).

[7] Carpentier, Das Reich von dieser Welt (El reino de este mundo), aus dem Spanischen von Doris Deinhard, mit dem Vorwort zur Originalausgabe und einem Nachwort von Mario Vargas Llosa, Frankfurt a.M. 2004.

[8] Zur Übersetzungsproblematik siehe Hans-Otto Dill, Das wirkliche Wirklich-Wunderbare Amerikas: Alejo Carpentiers Konzept der lateinamerikanischen Literatur, in: ders., Zwischen Humboldt und Carpentier. Essays zur kubanischen Literatur, Berlin 2005, S. 67 ff.

[9] Carpentier zit.n. Rubio Navarro, S. 163.

[10] Ders., Die verlorenen Spuren (Los pasos perdidos), aus dem Spanischen von Anneliese Botond, Frankfurt a.M. 1979, S. 23.

[11] Ebd., S. 22.

[12] Ebd., S. 351 f.

[13] Musik zu schreiben, so die ultimative Erkenntnis des Protagonisten der verlorenen Spuren - sei „das höchste Amt jener Rasse“, die sich Künstler nennt (ebd.).

[14] Carpentier, Der lateinamerikanische Roman an der Schwelle eines neuen Jahrhunderts, in: ders., Ausgewählte Werke: Essays, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Hans-Otto Dill, aus dem Spanischen von A. Botond und Ulrich Kunzmann, Berlin (DDR) 1985, S. 64.

[15] Ders., Zeit- und Sprachproblematik im modernen lateinamerikanischen Roman, in: ders., Stegreif und Kunstgriffe. Essays zur Literatur, Musik und Architektur in Lateinamerika, aus dem Spanischen von A. Botond, Frankfurt a.M. 1980, S. 91.

[16] Ders., Die Hetzjagd (El acoso), aus dem Spanischen von A. Botond, Frankfurt a.M. 1977.

[17] El acoso está estructurada en forma de sonata: Primera parte, exposición, tres temas, diecisiete variaciones y conclusión o coda“ (ders. zit.n. Rubio Navarro, S. 147).

[18] Ders., Zeit- und Sprachproblematik im modernen lateinamerikanischen Roman, S. 91 f.

[19] Ebd., S. 87.

[20] Ders., Die verlorenen Spuren, S. 119.

[21] Ebd., S. 122.

[22] Ebd., S. 126.

[23] Ders., Die Hetzjagd, S. 52.

[24] Ders., Music in Cuba, S. 268 f.

[25] Ders., Le sacre du printemps (La consagración de la primavera), aus dem Spanischen von A. Botond, Frankfurt a.M. 1993.

[26] Ebd., S.401.

[27] Ders., Der lateinamerikanische Roman an der Schwelle eines neuen Jahrhunderts, S. 75.

[28] Ders., Der Engel mit den Rasseln. Was die moderne Musik Lateinamerika verdankt, in: ders., Farben eines Kontinents. Reisen durch Lateinamerika, aus dem Spanischen von A. Botond und U. Kunzmann, Frankfurt a.M. 2003, S. 116.

[29] Für beide hat Carpentier Libretti und Texte verfaßt.

[30] Carpentier, Der Engel mit den Rasseln, S. 122.

[31] Ders., Music in Cuba, S. 281.

[32] Siehe ebd. S. 42.

[33] Ders., Barockkonzert (Concierto barroco). Novelle aus dem Spanischen von A. Botond, Frankfurt a.M. 1976, S. 53.

[34] Ebd., S. 54 f.

[35] Ders., Explosion in der Kathedrale (El siglo de las luces), Frankfurt a.M. 1964. In direkter Übersetzung müßte der Titel „Das Jahrhundert der Aufklärung“ heißen.

[36] Ders., Die verlorenen Spuren, S. 29 f.

[37] Ebd., S. 211.

[38] Ebd., S. 208.

[39] Ebd., S. 223.

[40] Ebd., S. 351.

[41] Ebd., S. 323, siehe auch S. 268 f.