Bitte zitieren sie dieses Dokument als / Please cite this document using:
www.ars-mimetica.org/literatur-und-musik/rubin-de-cervin/
© Ernesto Rubin de Cervin Erben / Joachim Noller 2006
Ernesto Rubin de Cervin
Die Lektion des Komponisten
Eine Erzählung
eingeleitet, herausgegeben und übersetzt von Joachim Noller
________________________________________________________________________________________________________________
Einleitung
Ernesto Rubin de Cervin (Albrizzi), geboren am 5.Juli 1936 in Venedig, daselbst verstorben am 29.März 2013, entstammte alten Savoyer Adels- und venezianischen Patriziergeschlechtern. Die Lagunenstadt blieb sein Lebensmittelpunkt; daneben unterhielt er einen Landsitz in Südtirol, in seinem Besitz war auch die geschichtsträchtige Haderburg, die er der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat.
In seiner musikalischen Ausbildung wurde er mit illustren, in ihrer Mentalität und Stilrichtung verschiedenartigen Persönlichkeiten konfrontiert, auf die - mit Rubin als „Coda“ - eine subjektiv gefärbte Musikgeschichte der italienischen Moderne durchaus zentriert sein könnte. Als Kind erhielt er Geigenunterricht am Konservatorium seiner Heimatstadt, dessen damaliger Direktor (Gian Francesco Malipiero) die kreativen Fähigkeiten des jungen Musikers bald erkannte und den Wechsel in die Kompositionsklasse empfahl; sein Solfeggio-Lehrer hieß Bruno Maderna. Nach dem Abitur setzte er seine Kompositionsstudien am Florentiner Konservatorium fort (bei Roberto Lupi, vor allem aber - inoffiziell - bei Luigi Dallapiccola), ging 1957 nach Rom, wo er sich als Schüler Goffredo Petrassis und Virgilio Mortaris wiederum mit differenten Denkweisen auseinanderzusetzen hatte. 1960 wurde ihm das Kompositionsdiplom ausgehändigt, und es entstand sein Opus 1. Es folgten wenige beispielgebende Werke, bis er 1968 verstummte und erst 8 Jahre später wieder die Kraft fand, kompositorisch fortzufahren. Von 1965 bis 1985 unterrichtete er, zunächst am Liceo musicale von Udine Solfeggio, dann am Konservatorium von Venedig Didaktik, Analyse und Komposition. Als ich Rubin ca. 1990 kennenlernte und ihm von meiner damaligen Arbeit über italienische Gegenwartsmusik erzählte, überraschte er mich mit der Aufforderung, ich möge auch andere Komponisten Venedigs berücksichtigen! Wurde ihm selbst doch jahrelang die öffentliche Anerkennung als Künstler verweigert.
In seiner ästhetischen Vorstellung ist Ton- stets auf Wortsprache bezogen, doch niemals 1:1 übersetzbar, sondern mit erheblichem Spannungsverhältnis, als Mittel zur Erkenntnis aber auch komplementär. In diesem Sinn werden Töne geformt, wird aber auch über Musik reflektiert: Vortragsreisen führten Rubin in die USA (1970) sowie nach Lateinamerika (1972), Aufsätze erschienen in italienischer, englischer und französischer Sprache. Das Wort dient ihm jedoch nicht nur zur Darstellung seines Musikdenkens: Rubin ist Homme de lettres in vielseitiger Ausprägung, schreibt Poesie und Prosa und hat zu Lebzeiten zwei Erzählbände publiziert (Passeggiata al castello, 1989, und Il ragazzo in tunica, 1995).
Waren zuvor die beiden Sprachebenen, die musiktheoretische und die belletristische, weitgehend getrennt (freilich mit gedanklichen Verbindungslinien, dieselben wurden aber nicht expliziert), stellt La lezione di composizione in Form einer modernen Musikernovelle den Versuch dar, beide in voller Offenheit zusammenzuführen: im Bewußtsein Rubins mag es eine besondere Herausforderung gewesen sein, zumal seine literarische und die musikalische Seite “zwei Seelen” repräsentierten, die heute sich vertrugen und morgen miteinander stritten. So entsprach es dem Innenleben des Künstlers, daß intellektuelle Gedankengänge mit großer Naivität und naive Vorstellungen auf hoher Reflexionsebene präsentiert, daß Widersprüche nicht gelöst wurden. Viele Aussagen des “Meisters” in der Erzählung können in Rubins Werken verifiziert werden, andere schöpfen aus dem spekulativen Denken des Autors.
Leider kursieren im Internet falsche Behauptungen zum Schaffen Ernesto Rubin de Cervins. Angeblich habe er eine „New Venice School“ ins Leben gerufen. Eine solche Schule existiert nicht, Rubins künstlerische Stellung war zeitlebens äußerst solitär.
Joachim Noller
________________________________________________________________________________________________________________
In vielen Unterrichtsjahren am Konservatorium von B. befand sich unter den herausragenden Schülern ein gewisser L.S., vielleicht der begabteste: ein guter Kontrapunktiker, exzellenter Orchestrator, der besonders talentiert war, in der Manier vergangener Meister, vor allem des frühen 20.Jahrhunderts, zu komponieren. Er hatte Schwierigkeiten, und bedauerte es selbst, seinen eigenen Stil zu finden, was ich jedoch, eingedenk seiner Jugend, für ganz normal erachtete. Vergangenen Sommer, als ihm sein Diplom mit Bestnote ausgehändigt wurde, kam er in seiner feinen Art zu mir, um sich für den Unterricht zu bedanken, den er im Laufe des dreijährigen Kompositionskursus genossen hatte. In aufrichtiger Empfindung sagte ich ihm, daß es mir mißfalle, ihn nicht mehr zu sehen, und er schien ebenso aufrichtig, als er versicherte, mit mir Kontakt zu halten, sogar versprach, mich zu Beginn des nächsten Studienjahrs zu besuchen, privat oder im Konservatorium. Doch Anfang November stimmte mich traurig, daß er sein Versprechen nicht einhielt. Auch meine Schüler, die seine Kommilitonen und Freunde gewesen waren, wußten nichts von ihm. Ich forderte sie auf, über die überraschende Abwendung (was mag in einem rechtschaffenen und treuen Menschen wie L.S. vor sich gegangen sein?) Nachforschungen anzustellen, und ein paar Wochen vor Weihnachten erfuhr ich, daß ihn die Begegnung mit einem Komponisten aufgewühlt habe, den ich nicht kannte und von dem ich ansonsten auch nichts vernommen hätte. Ich wollte mehr wissen und bat meine Studenten, darauf zu bestehen, von ihm mehr Informationen über die Begegnung zu erhalten. Es wurde März, bis ich jenen Text erhielt, der hier veröffentlicht wird, wofür mir der Verfasser die Erlaubnis erteilt, im Gegenzug aber auch das Versprechen abverlangt hat, seinen Namen geheim zu halten.
E. R. C.
Die Freunde haben mich oft dazu aufgefordert, von meiner Begegnung mit S.Erminero zu erzählen. Da es mir mündlich bisher nicht möglich war, über diesen Tag Rechenschaft abzulegen, hielt ich es für angebracht, den Bericht aus der Erinnerung niederzuschreiben und ihn all jenen zur Verfügung zu stellen, die ein gewisses Interesse dafür haben könnten. Schreiben ist nicht mein Handwerk, und ich bitte somit um Verständnis für die sprachliche Dürftigkeit, versichere jedoch, daß die Gedanken des Meisters mit großer Sorgfalt wiedergegeben sind.
L. S.
In den Ferien, die wir mit Freunden im geliebten Deutschland, dem Land der Musik und Poesie, verbrachten, hörten wir eines Abends - es war in der bezaubernden Stadt Memmingen - ein Konzert mit dem ungarischen Esterhazy-Quartett. Auf dem Programm standen klassische Werke: Mozart, Schubert, Brahms, aber vor letzterem und sofort nach der Pause erschien das Werk eines Zeitgenossen, eines gewissen S.Erminero. Ich hatte noch nie von ihm gehört. Wie sprach man seinen Namen aus: Ermìnero? Erminéro? Ich nahm an, es könnte sich um einen Rumänen handeln, vielleicht einen Schweizer, eventuell auch einen Süd- oder Nordamerikaner. Sicher kein Italiener, weil ich von seiner Existenz etwas gewußt hätte. Das Konzert fand im Kreuzgang eines Klosters statt und war herrlich. Die ungarische Quartett-Tradition ist - wie Ihr wißt - großartig. Man konnte meinen, daß keine tiefer gehende Interpretation und keine vollkommenere Aufführung möglich wäre als das, was die jungen Musiker aus Budapest damals zu Gehör brachten. Doch was mich besonders beeindruckte, nicht nur mich, sondern auch andere im Publikum, war gerade das Werk von Erminero. Seine Musik hatte eine außergewöhnliche harmonische Dichte; verblüffend für unsere Zeit war der Zusammenhang zwischen Horizontale und Vertikale, das Ganze auf einer rhythmischen Grundlage, die ich nicht recht verstand, in anderen Worten: es blieb rätselhaft. Es war eine bald dunkle und bald klare Musik, manchmal tragisch oder auch lyrisch-verliebt (ich weiß, daß Ihr bei diesem Ausdruck lachen werdet), jedenfalls immer von bewundernswerter kompositorischer Weisheit. Ich erinnere, wie der Himmel zu Beginn des Stückes noch die Blässe des späten Sonnenuntergangs zeigte und daß es Nacht war, als Brahms zur Aufführung kam. Nach dem Konzert gratulierte ich den Musikern und nutzte die Gelegenheit, sie zu fragen, wer denn nun Erminero sei, Autor eines so schönen Quartetts. Auf deutsch und englisch radebrechend antwortete mir einer von ihnen, daß dieser weder Venezolaner noch Rumäne, sondern tatsächlich Italiener sei und daß sie ihn nie getroffen, die Partitur vielmehr aus der Hand eines ungarischen Freundes erhalten hätten, der zuvor bei einem Schüler Ermineros in Italien auf Besuch war. Es habe jedoch einen Briefwechsel gegeben: die jungen Ungarn hätten den Maestro um einige interpretatorische Erläuterungen gebeten, und er habe ihnen in kurzer, aber klarer Form geantwortet. Keiner von ihnen erinnerte sich an Ermineros Adresse, aber sicher befinde sich dieselbe unter ihrer Korrespondenz. Wir tauschten unsere Anschriften aus und verabschiedeten uns mit dem Versprechen, in Kontakt zu bleiben.
Und so war es. Wenige Tage, nachdem ich nach Mantua zurückgekehrt war, erhielt ich aus Budapest einen amüsanten Brief: inmitten eines Wortwirbels, der ohne Sinnzusammenhang ungarische, englische, deutsche und italienische Begriffe enthielt, stand gut leserlich die kostbare Adresse Ermineros. Ich antwortete sofort mit einem entsprechenden Wortwirbel, bestehend aus mantuanischen, sardischen, türkischen und norwegischen Begriffen, in deren Mitte, ebenso lesbar, das Wort “Danke” stand. Mit größerem Ernst schrieb ich am nächsten Tag einen Brief wie folgt:
Verehrter Meister,
Ihre Anschrift erhielt ich von den großartigen jungen Musikern des Esterhazy-Quartetts, die ihr schönes Werk in Memmingen aufgeführt haben. Auch ich durfte zugegen sein.
Nun möchte ich Sie fragen, ob Sie die Güte hätten, mir ein Datum zu nennen, an dem ich Sie besuchen könnte. Mein Wunsch wäre, daß Sie sich die Probleme eines Komponisten am Beginn seiner Laufbahn anhören und diesem Ihren Rat nicht verweigern, ihm vielleicht auch eine regelrechte Lektion in kompositorischen Fragen gewähren mögen.
In Erwartung Ihrer Antwort verbleibe ich mit hochachtungsvollen Grüßen
Der Brief war auf den 4.August datiert, schon am 8. erhielt ich die Antwort:
Ich erwarte Sie am 15.September nachmittags um 6 Uhr zu Hause.
Welcher Mensch verbarg sich hinter einer so trockenen Mitteilung und einer so bewegten Musik? Den Rätseln wurde noch eines hinzugefügt, da keine genauen Angaben vorlagen, wo sich seine Wohnung befand. Der Name Erminero erschien nicht im Telefonbuch von Sassofeltro, in der Provinz von Pesaro, also in den Marken, wo er lebte. Ihr werdet verstehen, daß ich auf undefinierbare Weise eingeschüchtert war. Es ist immer gefährlich, diese Art von Persönlichkeit zu “suchen”, und es ist weise, darauf zu warten, gegebenenfalls “auserwählt” zu sein. Als der 15.September auf mich zukam und meine Scheu Ausmaße der Furcht, ja sogar des Schreckens annahm, dachte ich mehrmals daran, auf die Begegnung zu verzichten und den Besuch abzusagen. Nur die Scham, die eine so feige Geste bei mir selbst ausgelöst hätte, hielt mich davon ab.
Weil es nicht möglich war, Sassofeltro im Zug zu erreichen, hatte mein Vater die Güte, mir sein Auto zu leihen. Früh am Morgen fuhr ich los, war zeitig in Pesaro und konnte noch das herrliche Museum besuchen, bevor es zu Mittag schloß. Ich aß etwas und informierte mich, wo es nach Sassofeltro ging. Es war nicht weit, so daß ich einen Umweg fuhr: die wunderbare und fast intakte Landschaft der Marken nahm mir etwas von meiner Angst. Rechtzeitig kam ich in Sassofeltro an und erfuhr bald, wo der “Musiker” wohnte. Aber es wurde auch erzählt, er sei ein eigenartiger Typus, der alleine leben, nur selten den Ort verlassen und wochenlang seinen Fuß nicht aus dem Haus setzen würde. Es ging auch das Gerücht, er sei des Nachts unterwegs, wenn keine Menschenseele und kein Automobil anzutreffen wären. Zwei Minuten vor 6 Uhr stand ich vor seinem Haus. Die Tür war offen. Im Hintergrund sah ich einen Garten. Das Haus machte einen bescheidenen Eindruck, vier Fenster im Erdgeschoß und vier im ersten Stock. Punkt sechs, bestätigt vom Glockengeläute der Dorfkirche, erschien Erminero am Gartentor, lief durch den Hausflur und empfing mich an der Eingangstür. “Treten Sie ein”, sagte er freundlich, streckte mir aber nicht die Hand entgegen. Schweigend wurde ich über den Korridor und durch die zweite Tür auf der rechten Seite geführt. Es war sicher sein Arbeitszimmer, wenngleich charakteristische Elemente eines Kompositionsstudios fehlten wie das Klavier, Noten und Platten; parallel zur linken Wand stand ein ausladender Schreibtisch, auf dem sich ein großes offenes Buch, einige verstreute Briefe und eine Vase mit fünf welken Rosen befanden. Außerdem bemerkte ich einen Ring und einen Füllfederhalter. Drei Wände waren von Büchern bedeckt, die mir bedeutend vorkamen, da unter ihnen zahlreiche Exemplare von beträchtlichem Alter waren. Auf der Rechten ein niederer Tisch, ein kleines Sofa, zwei Sessel. Das Licht kam von einer Glastür und einem Fenster, die beide zum Garten gingen. Ich schätzte, daß wir gen Westen schauten, so warm war das Sonnenlicht auf den Pflanzen und im Inneren des Zimmers.
Ich hatte meine Mappe an einen Schreibtischfuß gelehnt, mit all den Partituren, die er - wie ich hoffte - sich ansehen würde. “Bitte”, sagte er mir, zeigte auf das Sofa, und nahm selbst auf dem Sessel zur Linken Platz, von wo er, ich bemerkte es bald, zum Garten schaute, während mir, der ich ihm gegenüber saß, dieser Blick verwehrt blieb. Aber auch bei vertauschten Plätzen wäre es mir schwer gefallen, meinen Blick von seinem Gesicht zu wenden und im Ausblick auf den Garten Erholung zu finden: dieses Gesicht könnte ich nicht beschreiben, erinnere mich aber, daß seine dunklen Augen, obgleich sie nicht besonders tief saßen, von solcher Tiefgründigkeit und Kraft waren, die ich ohne Übertreibung als magisch bezeichnen würde. Ich konnte nicht anders als in seine Augen schauen und fürchtete mich doch vor ihnen; es war, als ob sie mich gefangen hielten, ihre Kraft mich verwirrte und ich mich ihr entziehen wollte. Allmählich wurde mir bewußt, daß diese Augen nicht hinaus-, sondern hineinschauten und daß sich in dieser Verinnerlichung Askese und Autorität, Demut und Weisheit vereinten. Sein Gesicht, auch seine Hände waren bewegungslos. Er wartete darauf, daß ich das Wort ergreifen würde. Verlegen, wie Ihr Euch denken könnt, begann ich schließlich zu stammeln:
“Meister, danke, daß Sie mich empfangen. Seit ich Ihr Quartett gehört habe - ich meine es Ihnen geschrieben zu haben -, wünsche ich mir inständig, Sie kennenzulernen. Ich weiß nicht, ob es interessiert, aber ich muß Ihnen sagen, daß ich Komponist bin, daß ich dieses Jahr im Konservatorium von B. mit Bestnote diplomiert wurde, daß ich auch Pianist bin, aber damit nicht mein Leben fristen möchte, auch nicht mit Dirigieren, ich will, möchte - verzeihen Sie - ausschließlich Komponist sein. Ich weiß, daß es nicht leicht ist, auch daß es anmaßend ist. Verständlicherweise mißfällt meinen Eltern diese Entscheidung. Aber ich will es probieren, koste es, was es wolle. Ich habe sie gebeten, mich noch zwei oder drei Jahre zu unterstützen. Einige Partituren sind entstanden, die ich heute bei mir habe.”
Doch den Mut, ihm vorzuschlagen, nun ein Auge auf meine Musik zu werfen, hatte ich nicht. Es wäre - so kam es mir jedenfalls vor - unverschämt gewesen. Was sollte ich ihm noch sagen? Sein Schweigen war unausstehlich. Warum ermutigte er mich nicht? Panisch manifestierte sich meine Dummheit. Ich sagte, was ich dachte:
“Meister, mein Geist dreht sich im Leerlauf. Er ist voller Musik, doch Musik ohne Zusammenhang. Mir ist, als ob ich nichts mehr wüßte, auch das nicht, von dem ich bis vor kurzem der Meinung war, es gelernt zu haben. Ich bin verzweifelt. Doch in Ihrem Werk, das ich nun gehört habe, glaube ich ein Licht zu sehen. Meister, ich frage Sie: was ist das für ein Licht, woher kommt es?”
Bei den letzten Worte hatte ich schon entschieden, daß, wenn er mir nicht antworten würde, ich mit einer Entschuldigung, ihm seine kostbare Zeit geraubt zu haben, aufgestanden und hinausgegangen wäre. Aber ganz langsam kam die Antwort aus ihm heraus:
“Dieses Licht ist das Dunkel selbst. Nur wer das Dunkel als solches wahrnimmt, wird die Hoffnung nicht verlieren, daß die Musik noch einen Sinn behält.” Er sagte es mit schwacher, wehmütiger Stimme, daß ich es nicht verstand. “Das Dunkel ist die Zusammenhanglosigkeit der Musik, es füllt Ihren Geist aus und versetzt diesen in Leerlauf. Ihre Verzweiflung verdanken Sie der Überzeugung, Ihr Geist habe diese Zusammenhanglosigkeit verursacht und nicht die Musik.“ Ich verstand die Bedeutung dieser Worte nicht und wußte nicht, was darauf zu sagen wäre. Nun war es jedoch der Meister, der eine Entgegnung oder Frage erwartete. So saßen wir lange schweigend da, und zur inneren Verwirrung kam die äußere Dunkelheit hinzu. Doch der Meister zeigte Nachsicht:
“Wären Sie in der Lage, die Zusammenhanglosigkeit Ihrer musikalischen Vorstellungen zu erläutern?” Das war nicht schwierig. Ich sagte einfach und direkt: “Zum Beispiel bei einer Idee, die ich für gut halte, weiß ich nicht, wie sie fortentwickelt werden soll. Ich weiß aber, daß die Idee nicht in sich abgeschlossen ist, daß es kein Stück von zwanzig Sekunden ist. Andererseits, wenn sich eine zweite Idee herausbildet, kann ich sie nicht mit der vorhergehenden verknüpfen; zwischen den Ideen stellt sich keine Beziehung her. Mit gelingt es nicht, eine Kontinuität herzustellen, die Fragmentierung akzeptiere ich jedoch ebenso wenig.”
“Das ist alles?”
“Nein, nein! Anderes Beispiel: ich bin unsicher im Harmonischen; mich beunruhigt der Gedanke, daß es keinen Unterschied macht, welchen Akkord ich wähle. Wie ist das möglich? Ich zögere beim Schreiben, und jede Note wird zur Qual, nicht etwa, weil ich eine andere passendere ihr vorziehen könnte, sondern weil ich glaube, daß die passendere Note nicht existiert. Dasselbe könnte ich vom Rhythmus sagen. Mich selbst habe ich noch nicht gefunden, und es ist mir bewußt, jeden Tag. Es gelingt mir nicht, mich auszudrücken. Also werf ich mir vor, ein Dilettant zu sein, ein Dummkopf, der kein Talent hat. In Ihrer Musik, Meister, hatte ich jedoch den Eindruck, daß jede Note, jeder Rhythmus am richtigen Platz ist, wie man es auch beim Hören großer Meister der Vergangenheit empfindet. Darin war mein Wunsch motiviert, Ihnen zu begegnen. Nochmals, ich bin Ihnen zutiefst dankbar, daß Sie mich empfangen haben.”
Der Meister blieb regungslos sitzen. Doch dann, völlig unerwartet, stand er auf, öffnete die Glastür und ging hinaus in den Garten. Zunächst blieb ich sitzen und wartete, hielt es jedoch nicht lange aus und folgte ihm. Der Garten war weder groß noch besonders gestaltet. Ich würde ihn als ungepflegte Wiese beschreiben, zur Rechten ein Granatapfel-, zur Linken zwei Oliven-Bäume und im Hintergrund eine niedere Brüstung aus Backsteinen. Da stand er, der herrlichen Landschaft von Montefeltro zugewandt. Und ich murmelte, in ängstlichem Ton:
“Hab’ ich vielleicht etwas Beleidigendes gesagt? etwas Dummes? Verzeihen Sie...” Mit einem leisen Lächeln antwortete er: “Schauen Sie diese Landschaft. Scheint Ihnen dieser Berg dort unten zu hoch? Sind diese Anhöhen zu steil? Wollten Sie ihnen die Härte nehmen? Man sieht, sie überschneiden sich, sollte man sie anders aufstellen? Und den Abgrund vor uns, würden Sie ihn sich weniger tief vorstellen? Würden Sie die Dimensionen all dieser Elemente verändern, also der Wälder, Hügel, Berge, der Täler? Hier herrscht weder Mathematik noch Geometrie. Und dennoch sehe ich Harmonie. Sehen Sie, mein junger Freund, auch das ist große Musik. Warum habe ich, glauben Sie, diesen Ort zum Leben ausgewählt?”
“Mein junger Freund” klang in mir nach wie eine plötzliche, unerwartete Gefühlsbezeugung, die mir Ruhe und Vertrauen gab. Der Meister zündete sich eine Zigarette an, und auch diese so banale Geste trug zur Normalisierung unserer Beziehung bei. Er kam auf das Gesagte zurück: “Die Aussicht auf diese Landschaft inspiriert und tröstet mich zugleich. Auch die Musik, besonders in den letzten Jahrhunderten, ist aus Volumina und Massen gemacht. Es hat uns zu einer neuen Urwüchsigkeit geführt. Die Artikulation der Musik sowie jene der Natur sind einander oft ähnlich. Die Musik ist Essenz der Welt und nicht nur des Menschen.”
Musikalische Ordnung und Unordnung gehörten immer zu den Themen meiner bescheidenen Reflexion, aber auch zu den Quellen meiner Unsicherheit. Doch ich äußerte mich nicht dazu, wartete vielmehr, bis er zu Ende geraucht hatte. Mehr als der erhabene und heitere Anblick des Tals beeindruckte mich die große Stille, und das Schweigen des Meisters war damit verknüpft. Die Zeit verging, und unmerklich wurde das Licht schwächer. “Gehen wir wieder hinein und sprechen Klartext”, in der Hand hielt er den ausgedrückten Zigarettenstummel, der im Aschenbecher auf dem Schreibtisch verschwand. Wir setzten uns wie zuvor, ich auf dem Sofa, er im Sessel zur Linken. Schließlich redete er:
“Nur zwei Beweggründe können Ihrem Besuch zugrunde liegen: die Neugier, mich kennenzulernen und die Hoffnung auf ein Heilmittel für Ihre Unsicherheit. Ich fürchte, Sie in beiden Fällen zu enttäuschen. Dennoch versuche ich Ihnen etwas von meinen Kenntnissen, falls es welche sind, mitzuteilen, im Wissen, daß jeder Gedanke über die Musik nicht anders sein kann als konfus, ja sogar unvernünftig. Ich sage unvernünftig, weil die Musik nicht rational ist, vielmehr metarational, was auch immer die Bedeutung dieses Wortes sei. Die Musik ist ein Werk des Geistes und man sagt, sie sei eine Sprache, freilich nicht lexikalisch klassifizierbar. Haben Sie nie darüber nachgedacht, daß diese Sprache, dieses geistige Werk im Laufe der Philosophiegeschichte niemals in die Überlegungen der Logiker und Epistemologen einbezogen wurde, die die andere Sprache, jene der Worte, erforscht haben? Ich habe erfahren, daß in einigen Wissenschaftszentren über die Beziehung von Musik und Gehirn geforscht wurde: das ist wichtig, doch hier geht es um etwas anderes: nicht die Wahrheit der Musik, sondern ihrer Produktion steht zur Diskussion. Ich frage mich, man fragt sich, was wahr ist und was falsch, worin der Irrtum besteht?”
Lange schwieg er. Beide waren wir in Gedanken versunken, ich reflektierend, er meditierend. Ich betrachtete ihn, er schaute nach draußen, vielleicht in den Garten, vielleicht auf den Himmel. Schließlich überwand ich mich: “Was in der Musik Wahrheit sei, weiß ich wirklich nicht. Ich möchte eine bestimmt idiotische Antwort riskieren: es ist Schönheit.” Aber der Meister hörte mir nicht zu, dachte an anderes. Seine Gedankengänge schienen mir unstetig [diskontinuierlich] zu sein. Dann sprach er wieder: “Es gibt viel Musik im Okzident wie auch im Orient, und beide haben viele Phasen durchgemacht. Sagen beide dasselbe? Sind sie gegenseitig übersetzbar?” Dieses Mal war die Stille kurz: “Jede Musik stützt sich auf primäre Strukturen melodischer, harmonischer und rhythmischer Art. Die Strukturen sind im Westen und im Osten verschieden, gleichwohl stützen sich beide auf solch primäre Strukturen. Die Tragödie der Musik unserer Zeit, der westlichen Musik, besteht darin, nicht mehr über primäre Strukturen zu verfügen.”
“Verzeihen Sie, Meister, wenn ich Sie unterbreche: was verstehen Sie unter dem Verlust primärer Strukturen?”
“Na, das wissen doch alle! Seit über fünfhundert Jahren ist die tonale Sprache in einem Raum versunken, der keine Koordinaten mehr hat. Es gab die Dur- und einige Moll-Tonleitern, und die sind verschwunden. Es gab zwölf Tonarten in Dur und ebenso viele in Moll, und sie sind verschwunden. Es gab unendlich viele Modulationsgänge, die durch vierundzwanzig Tonarten führten, und sie sind verschwunden. Es gab eine Harmonie, die aus der Übereinanderschichtung von bis zu sechs Terzen bestand, und sie ist verschwunden. Es gab eine Rhythmik, eine Metrik und eine Agogik, die in Funktion zu diesem Skalen- und Akkord-System standen, und sie sind verschwunden. Was ist geblieben? Was hat sich herausgebildet? Vielleicht eine einzige erweiterte Skala von zwölf anstatt von sieben Tönen, von zwölf gleichen Halbtönen, die an die Stelle unterschiedlicher Skalen mit Ganz- und Halbtönen treten. Aber was ist das für eine Tonleiter, die vielleicht mehr ab- als ansteigt? Sie besitzt keinen Grundton, keine innere Ordnung in funktionaler und bedeutungsmäßiger Hinsicht, keine Spannung zwischen den Stufen, ist demnach nicht harmonisierbar. Für die Singstimme wird der Sinn eines Intervalls durch die Position zweier Töne in der ganzen Skala bestimmt, aber wenn die Skala keine mehr ist, was bleibt dann vom Intervall? Wie kann die Stimme dann singen? Und ist ohne Gesang die Musik als solche überhaupt noch existent?”
“Dennoch war Ihr Quartett, das ich in Memmingen gehört habe, Musik, und sehr schöne dazu.”
“Sprechen Sie bitte nicht von mir. Ich existiere nicht. Vielleicht könnte man das Intervall im pythagoräischen Sinn konzipieren, aber wer ist dazu noch fähig. Alles ist Dissonanz. Alles ist Konsonanz. Haben sich die Gegensätze deshalb vereinigt. Gibt es nur noch Gleichklang? Während die Logiker unter den Philosophen sich stets von der Musik fernhielten, wurde sie von den Grammatikern hingegen studiert und aufmerksam analysiert. Nun gut, heute stehen sogar die Grammatiker machtlos da, und ich verstehe sie: eine Sprache, die nur Wörter hätte und keine grammatikalischen und syntaktischen Strukturen, wäre nicht mehr eine Sprache. So ist das mit der Musik von heute.
Es ist unser Schicksal: wir Musikmenschen haben keine musikalische Sprache und können daher auch nicht von einer solchen reden. Es sei denn, diese Sprache bestünde aus einer unergründlichen Grammatik. Dann wäre sie ein nicht nur sprachliches Rätsel. Und das hieße zuzugeben, daß wir nicht kennen, wovon wir sprechen. Oft ist es so. Auch recht fade Musik wird nicht selten als Ausdruck des Unsagbaren gehandelt, und Musik, die sehr kompliziert ist, als Ausdruck höchster Spekulation. Aber es ist doch nur Abwesenheit von Sprache, darin besteht die Verwirrung.”
“Dennoch”, protestierte ich: “ich bestehe darauf, daß man immer noch gute Musik schreibt, manchmal ist sie sogar exzellent.”
“Davon sprechen wir nachher. Jetzt muß ich Sie darauf hinweisen, daß diese tragische Situation auch dem Leichtsinn und der Faulheit der Musiker geschuldet ist. Sie lassen sich mitreißen vom Leben, nicht von Gedanken. Sie denken nicht und fürchten die Abgründe, haben nicht den Mut zur Radikalität und fürchten sich vor der Einsamkeit.”
Der Meister kehrte zu jenem Schweigen zurück, das mir schon allzu bekannt war. In meiner nach wie vor ungeschickten wie auch ungeduldigen Art sagte ich: “Was sollten die Musiker machen? Will heißen: in welche Richtung sollten sie denken?” Darauf der Meister, in zartem Ton: “Vor allem über den Rhythmus nachdenken. Ach diese dumme Perkussion der Europäer! Der kosmische Rhythmus geht jeder Musik voraus. Dann kommen die großen Rhythmen, die jegliche Musik hervorbringen. Das Skandieren der großen Rhythmen wird eine Zeitstruktur bewirken, die sich auf den Augenblick gründet und stets zum nachfolgenden Augenblick strebt usw., bis der durch die Skandierung festgelegte Zeitrahmen ausgefüllt ist. Durch Vervielfältigung, nicht durch Teilung, d.h. durch Vervielfältigung des Klangmoments, der kleinsten Einheit und nicht durch Teilung des Taktes. Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß uns nur dieser Weg zu jener Größe zurückführt, die unserer Musik eigen war.”
Da ich natürlich den Sinn nicht verstanden hatte, bat ich ihn ängstlich, er möge mir ein konkretes Beispiel geben. “Das wäre nutzlos”, antwortete er, “vielleicht ist es nur ein theoretischer Weg. Würde man ihn wirklich beschreiten, erhielte man zumindest anfangs eine absolut asketische Musik. Ich sage asketisch, nicht abstrakt. Klänge einer Initiation. Sie sehen, daß es nicht gut ist, sich darüber auszulassen. Es ist zu früh.”
“Ist es zu früh, weil ich es noch nicht verstehen kann oder weil die Zeit noch nicht reif ist?”
“Aus dem einen wie aus dem andern Grund.”
Ich war betroffen. Wozu hatte der Wunsch, die Hoffnung geführt, diesen Mann kennenzulernen, die ganze Reise bis hier nach Sassofeltro, wenn man mir einen musikalischen Weg aufzeigt, der im nächsten Augenblick negiert wird? Was sollte die Rede, wenn sie zunächst Wesentliches anspricht und dann sofort wieder verhüllt? Nichts von mir interessierte ihn, nichts von sich wollte er mir zugestehen. Enttäuscht richtete ich meine Augen nach unten, auf den Boden, auf die Mappe mit meinen Kompositionen, dabei spürte ich seinen Blick, der mein Innerstes traf. Ich schaute ihn an, hielt es aber nicht lange aus, war enttäuscht und ausgelaugt, während er von Gedanken beseelt blieb. Sein Blick und sein Schweigen erdrückten mich, flößten mir ein Gefühl der Wertlosigkeit ein. Doch der Meister kam mir zu Hilfe:
“Das ist jedoch nur eine Seite der Medaille. Sagte nicht der große Tao-Lehrer: ‘Weg mit der Harmonielehre und mit den Musikinstrumenten, und die Menschen werden ein neues Hörvermögen erlangen’? Kannten Sie diese Worte? Haben Sie darüber nie nachgedacht? Genau das ist unsere ‘Situation’, wie man heute zu sagen pflegt: wir haben die Harmonielehre und fast alle Musikinstrumente weggeworfen; werden wir das Hörvermögen wiedererlangen? Schauen Sie, das materielle Chaos besteht immer noch aus Materie, das musikalische Chaos besteht immer noch aus Tönen. Wenn Ihr Geist schweigt, hören Sie einen Ton oder eine Gruppe von Tönen. Was geht diesem Klang voraus und was folgt ihm? Nichts. Also machen Sie sich den Klang zu eigen. Was heißt das? Verwandeln Sie ihn in einen Schrei, ein Weinen, Sprechen, ein Wollen und Sich-Behaupten, das Ihnen selbst entspringt. Verwandeln Sie ihn in ein Stück Gesang.
Dann lassen Sie diesen Gesang, ausgehend von jenem ‘Stück’, fortschreiten. Vielleicht weiß er nicht, wohin er gehen soll, fordert Hilfe, die Gegenwart eines zweiten Gesangs, wird polyphon. Oder das Klangstück kann nicht anders als sich wiederholen, einmal, zehn, hundert Mal, und wird monoton. Es kann ein Gefängnis sein, der Gesang eines Verzweifelten, eines Verurteilten. Aber es kann auch eine Befreiung sein, wenn in diesen Gesang verschiedene Impulse und Dauern hineingewoben werden. Jedenfalls wird das monotone Element tragende Achse sein, die uns den Klang und die Stille der Welt wahrnehmbar macht oder um die andere menschliche Gesänge rotieren. Wie beim alten mozarabischen Bordun. Wer wird mit Ihnen singen und dabei seinen Gesang in Monotonie verankern? Andere Bereiche Ihrer eigenen Seele werden singen. Ein dritter Gesang wird gleich einer Entgegnung aufsteigen, ein vierter, ein fünfter: der eine rational, der andere Kriegsgeschrei, wieder ein anderer Engelsgesang. Weil, Sie wissen es doch, in jedem von uns die ganze Welt eingeschlossen ist.”
“Ich erinnere mich”, versuchte ich einzuwerfen, “beim Hören Ihrer Komposition...”
“Die Europäer”, unterbrach er mich sofort, “kennen keine Stille, nur die Pause. Die Stille kommt aus dem Orient. Dort wird ihr dieselbe Natur zugesprochen wie die Leere, die wir fürchten, die wir als Metapher des Todes auffassen. Dummköpfe! Stille ist eine Metapher der Kontemplation, von Visionen, Ekstase, Befreiung. Sie repräsentiert auch die Ruhe- und Wartephasen des Geistes. Fürchten Sie sich nicht vor der Stille in Ihrer Musik, viel eher vor dem Lärm und der Geschwätzigkeit. Terror vanitatis. Lügen, Lügen der Heuchelei und der Demagogie unserer inzwischen schon kriminellen Gesellschaft.”
Solch extremen Vorstellungen konnte ich diesmal nur mein erschüttertes, resigniertes Schweigen entgegensetzen. Auch der Meister schwieg. Sein Gesicht war angespannt. Etwas Tragisches spiegelte sich darin. Auf einmal erschien mir das Zimmer, der ganze Ort in anderem Licht. Vielleicht war es der Ort der Stille gegenüber der lärmenden Welt, des Friedens gegenüber dem Krieg. Also auch der Ort der Auflehnung. Auch der Wahrheit? Ich erschauderte.
“Schauen wir uns den Sonnenuntergang an” sagte er schließlich. Wir gingen wieder hinaus in den kleinen Garten. Aus einer Ecke zog er zwei klapprige Eisenstühle bis zur Brüstung, und wir setzten uns. Ich gab mich der alten intakten Landschaft hin, die in der letzten Stunde des Tages unbeweglich vor uns dastand. Kein Geräusch drang herauf. Doch in meiner Aufgewühltheit zeigte sich bestimmt nicht der Friede dieser Landschaft, obwohl ich ihn verspüren konnte, sondern die Unerbittlichkeit zunehmender Dämmerung, das Hereinbrechen der Nacht.
“Sehen Sie diesen Baum dort unten, die große Ulme?” Ich bejahte. “Haben Sie bemerkt, daß er schwankt. Es ist der einzige, der auf die Brise reagiert.” Es stimmte: kein anderer Baum, ob hoch oder niedrig, bewegte seine Zweige. “So sind auch wir. Nur in wenigen von uns verfängt sich der Wind. Und nun, schauen Sie doch! Der Wind hat die Ulme verlassen, die wieder so unbeweglich ist wie die anderen. Eine musikalische Idee durchdringt Ihren Geist: freuen Sie sich daran, behalten Sie dieselbe im Gedächtnis, es ist schon Musik, und verlangen Sie nicht, daß der Wind Ihnen noch eine gibt.” Dummerweise sagte ich, es gelänge mir nicht, den Klang des Windes notenschriftlich zu erfassen. “Das hab’ ich nicht gemeint”, sagte er betrübt, “Sie haben mich nicht verstanden. Ich will keine Sonographie. Haben Sie nicht selbst auf die Verkettung von Ideen hingewiesen, also auf die Form. Darum wird sich das musizierende Ich kümmern. Sie und der Baum, lassen Sie den Wind zwischen Zweige und Blätter hindurchwehen.”
Meine Verlegenheit konnte ich nicht verhehlen, einerseits wenn er Worte und Begriffe benutzte, deren Bedeutung sich mir entzog, vor allem aber hinsichtlich musikalisch-kompositorischer Fragen. Ich fügte hinzu, daß, obwohl ich mir darüber im Klaren sei, es könnte als billige Maskerade abgetan werden, ich dennoch in Gedanken damit spielen würde, mich elektronischer Klänge zu bedienen.
“Wenn Sie sich nicht sicher sind bei natürlichen Klängen”, antwortete er, “warum wollen Sie dann auch künstliche benützen? Erinnern Sie sich, daß Musik immer von einem menschlichen für ein anderes menschliches Wesen gespielt und gesungen wurde, manchmal für einen Gott. Es ist sozialer oder, wenn es Ihnen besser gefällt, zwischenmenschlicher Austausch. Das Objekt dieses Austausches ist das Kunstwerk. Nennen wir es so. Der Spieler gibt es und der Hörer strebt danach, es zu empfangen. Mit der Tonverstärkung wird dieser Austausch verfälscht und mit der Aufnahme ganz aufgegeben. Schreiben Sie etwas für einen Freund oder für eine Geliebte, wenn nicht, dann widmen Sie es sich selbst und verdoppeln sich im Hörer. Es wird meist eine ‘Lamentatio’ sein. Folgen Sie mir?” Ich antwortete nicht und der Meister setzte fort: “Anstelle ‘schreiben’ hätte ich sagen müssen ‘komponieren’. Und das heißt zusammenstellen, kombinieren, verschiedene musikalische Elemente, Objekte, Themen, Figuren, Strukturen, Ideen sukzessiv oder simultan (auch beides zusammen) zu verknüpfen. Ich glaube, Ihre Unsicherheit wird auch durch die Vielzahl an Ideen verursacht, die Sie bedrängen. Ist es nicht so?”
“Es ist auch so”, gab ich zu, “und es ist die Ordnung, die mir fehlt. Ich glaube, es ist das Problem der Form, das Ihnen jedoch irrelevant erscheint. Es ist traurig, aber man tröstet sich mit der Feststellung, daß dieses Problem von fast keinem zeitgenössischen Komponisten gelöst wird.”
“Es ist nicht gelöst, wenn Sie unter Form Schema verstehen, in der Art von A-B-A oder A-B-A-C-A-D usw. oder entsprechender Schemata, die Sie sehr gut kennen. Die Form entsteht aus dem Wesenskern der Idee, nicht umgekehrt. Wenn es umgekehrt ist, haben wir den Formalismus. Sehen Sie, mein junger Freund, die Musik ist immer Erzählung. Musikalische ist nicht unähnlich zu literarischer Erzählung. Beide vollziehen sich in der Zeit. Aber die Zeit ist auch eine Illusion, wenn im Alpha schon Omega, im Beginn schon das Ende enthalten ist. Im übrigen ist Zeit nichts als ein Begriff. Nur Gegenwart ist ewig. Nun, wie viele narrative Formen, Formate, Schemata, Modelle, Beispiele, wie viele Artikulationsarten, Struktur-, Vorgangs- und Verfahrensweisen kennen Sie? Unzählige, werden Sie antworten. Und es sind unzählige, auch wenn man sie kategorisieren kann.
Alles hängt von den Ideen ab, oder von den Klangereignissen, die man zur Manifestation bringt. Wenn Sie vom Kunstwerk sprechen, dessen bin ich mir sicher, meinen Sie nicht bloße Sukzession, sondern Verkettung, also Entwicklung, vielleicht Metamorphose, also Folgerichtigkeit. Es kann, muß aber nicht notwendigerweise so sein. Wenn das, wie ich glaube verstanden zu haben, eine der größten Gefahren Ihrer Kompositionsweise ist, warum denken Sie nicht an ein Kunstwerk, in dem die Klangereignisse gleichsam ‘inkonsequent’ enorme Momente der Stille einbeziehen, in dem die Stille sogar das Kunstwerk selbst ausmacht, das als solches vom Hörer nicht mehr erwartet wird, eine Stille, in der hin und wieder Klangereignisse stattfinden? Auch das ist eine Möglichkeit heutiger Musik. Auch für Sie. Übrigens: vielleicht liegt das Schicksal unserer Musik in der Stille. Hören Sie es!”
Was sollte ich hören? Der Meister bewegte sich nicht und schwieg. Vor und um uns war absolute Stille: kein Automobilgeräusch, keine Menschen- oder Vogelstimme, kein Glockengeläut, nicht einmal das Säuseln des Windes. Ich durchquerte mit dem Blick das Tal, mehrere Täler, die sich bereits im Halbschatten befanden, dann die Berge und suchte irgend etwas, das in Bewegung war. “Nicht Schauen! Hören!” Nach einiger Zeit reagierte ich: “Meister, ich höre leider gar nichts!”
Darauf er: “Ich habe Sie nicht dazu aufgefordert, inexistente Töne zu hören, auch nicht, was Sie vielleicht gedacht haben, diese wunderbare Stille zu hören. Hören Sie nicht nach außen, sondern nach innen. Da ist Ihr Geist, Ihre Seele. Nur wenn alles draußen schweigt und nichts mehr abzulenken vermag, nur dann ist der Geist leer. Und in diesem Zustand werden Ideen angezogen, der Geist füllt sich mit Tönen. Oder mit Erinnerungen, seien sie bedeutend oder nichtig. Oder mit Tönen, die erinnerungsbeladen sind. Unterschätzen Sie sie nicht, denn es hat noch keine Musik gegeben ohne Genealogie und ohne Erinnerung an andere Musiken. Manchmal verbinden sich die Töne, oder es mischen sich Wörter hinein. Diese reden von jenen und umgekehrt. Die Übertragbarkeit von Ton und Wort wie auch ihre ursprüngliche Wesenseinheit werden Sie noch erkennen. Lassen Sie zu, daß solches geschieht, ja begünstigen Sie es, schaffen Sie bestmögliche Bedingungen. Leben Sie für solche Momente, alles andere ist Transkription.”
“Aber wird mir solche Konzentration gelingen”, murmelte ich.
“Warum sagen Sie das. Täglich macht jeder von uns die Erfahrung der Leere, also auch der Fülle, beispielsweise vor dem Einschlafen. Und selbst während des Schlafs. Haben Sie niemals musikalische Träume gehabt?” Nein, ich kannte diese Erfahrung nicht, wußte im übrigen auch nichts von einer Leere, ein Begriff, der mir bis heute obskur erscheint. Ich fragte, was er unter ‘Transkription’ verstünde, und der Meister antwortete, wieder in zartem Ton:
“Es sei gestattet zu behaupten, daß - nehmen wir die Malerei als Beispiel - ein Bild anzufertigen dasselbe sei wie die Transkription einer Vision. Warum wundern Sie sich? Wir sprechen von den Geheimnissen künstlerischer Schöpfung. Aber das wirkliche Geheimnis liegt anderswo. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir wieder hineingehen? Mir wird allmählich kalt.”
“Selbstverständlich”, sagte ich und verfiel wieder in eine bequeme Banalität, “der Sommer ist zu Ende, und hier sind wir in den Bergen.”
Der Meister ging voraus, während ich einen letzten Blick auf die alte Landschaft warf. Inzwischen hatten sich die Entfernungen verschleiert, die Oberflächen zersetzten sich, die vielen Grüntöne wurden düster und nahmen eine einzige Tonalität an, die allmählich jede Farbe, jedes Ding verschlang und auslöschte. Im Studio fand ich ihn wieder, auf demselben Sessel wie zuvor. Und ich sollte Platz nehmen auf dem Sofa. Hier war die Dämmerung verständlicherweise viel weiter fortgeschritten als im Garten. So erwartete ich, daß der Meister die Schreibtischlampe anschalten würde. Wir schwiegen lange, und da für mich der Grund dieses erneuten Schweigens auf der Hand lag, sagte ich:
“Es ist spät geworden. Leider muß ich Sie verlassen. Aber vielleicht ist noch Zeit, Ihnen eine letzte Frage zu stellen: worauf spielten Sie an, als Sie vom wirklichen Geheimnis sprachen?”
“Und ich antworte Ihnen mit zwei Fragen. Die erste: woher kommen die Ideen? Die zweite: wie werden Ideen hervorgebracht?”
Abermals geriet ich in Verlegenheit. Zweck meines Besuchs war die Musik, nicht die Philosophie. Es versteht sich von selbst, daß ich auf keine Frage eine Antwort gab, so daß der Meister fortfuhr:
“Wie die Fragen sind auch die Antworten wechselseitig. Weniger unser Verhältnis zur Musik, als unsere Weltanschauung, unser Menschenbild hängt davon ab. Zur Debatte steht die Religiosität, d.h. inwieweit eine Vielfalt an Existenzebenen akzeptiert oder eben geleugnet wird. Weder Sie noch ich haben eine Lösung. Deshalb hab’ ich vom Geheimnis gesprochen.”
“Also?”
“Also, egal, welche Frage korrekt gestellt und richtig beantwortet würde, auch unabhängig von Religiosität und Stofflichkeit: sicher ist, in der Musik wie in der Mathematik, in der Poesie wie in der Physik, daß die reine Idee uns über eine Entdeckung oder eine Enthüllung erreicht, es handelt sich um Erkenntnis. Ja, Musik ist Erkenntnis, Erkenntnis eines Andersseins, das sich in Tonbeziehungen und Klangkonfigurationen, in Zeitstrukturen, Nähe- und Ferne-Erlebnissen, in Offensichtlichkeit und Zurückhaltung (besteht darin nicht der Sinn einer Dynamik vom fortissimo bis zum pianissimo), in Komplexem und Einfachem ereignet. Klang und Wort sind im Grunde Erkenntnis, gerade die große Musik wie auch die große Poesie ist Erkenntnis und nicht nur Kommunikation. Und was mich betrifft, glaube ich, es ist - was immer man darunter versteht - ein Geschenk der Götter, mehr Offenbarung als Entdeckung.”
“Dennoch”, versuchte ich nach langem Zögern einzuwenden, “und fast schäme ich mich, eine so banale Sache zu sagen, gestehen alle der Musik eine enorme Kraft zu, das Gemüt des Hörers zu bewegen.”
“Auch ihn zu erschrecken, was das anbelangt. Aber Rührung und Schrecken sind schon im Überträger, im musizierenden Ich angelegt, das die Idee transkribiert, welche ihm offenbart wurde.”
“Das musizierende Ich? Was ist das?”
“Wir haben es schon erwähnt, und alle wissen es, daß sich die Musik in der Zeit vollzieht. In einem Augenblick beginnt sie und wird nach gewisser Zeit enden. Es ist nicht nur die Dauer der Musik, sondern offensichtlich auch jene des Ausführenden, auch wenn dieser improvisiert: denken Sie an die indische Musik. Es ist eine essentielle und privilegierte Dauer menschlicher Existenz. Wie konzentriert sie auch sein mag, es ist doch immer eine Dauer: so kann man ausgeruht beginnen und müde enden; das Gedächtnis kann unvorhergesehene, sogar unmerkliche Änderungen bewirken etc. Was bedeutet das für den Komponisten? Die Komposition kann einen Tag dauern, einen Monat, auch Jahre. Während dieser Dauer unterliegt die Realisierung der Idee verschiedenen Variationen des existierenden, des musizierenden Ichs. In der Literatur und Malerei wurde dieses Problem, wenn nicht exakt bestimmt, so doch wenigstens untersucht.”
“Doch”, fragte ich unsicher nach, “mit welcher Konsequenz?”
“Darüber spreche ich nur”, antwortete er ruhig, “weil Sie Komponist sind. Andere dürfte es nicht interessieren.” Er seufzte: “Das musizierende Ich bewegt sich zwischen ideeller Konsistenz, konkreter Bestimmung der Einzelheiten (Höhen, Rhythmen, Klangfarben, Pausen, Dynamik, Proportionen) und essentieller Unstetigkeit. Daher muß der große Musiker Erfinder sein, er muß Weisheit und Beständigkeit besitzen: er muß seine Erfindungsgabe oder, wenn Sie so wollen, seine Erleuchtung günstig stimmen, muß seine Weisheit stets steigern und seine Beständigkeit schützen.”
Jetzt seufzte ich: “Mein Gott! Ich bin nicht wie Sie, Meister! Und mit der Situation heutiger Musik!” Vom Meister erwartete ich, und sei es nur aus Höflichkeit, daß er ein paar Worte der Ermutigung an mich richten würde. Es folgte jedoch langes Schweigen. Weil er, soweit ich in der Dunkelheit sehen konnte, gänzlich erstarrt schien, erlaubte ich auch mir nicht die kleinste Regung, die darauf hingedeutet hätte, daß es an der Zeit wäre, mich zu verabschieden. Wann würde er sich bewegen? Was er zu sagen hatte, hatte er gesagt, warum sollte er mich also hinhalten? In Erwartung einer Geste, eines Abschiedsworts, begann ich vor mich hinzugrübeln, daß im Laufe unserer Unterredung kein Name eines einzigen zeitgenössischen, modernen oder alten Komponisten ausgesprochen, daß kein technisches oder theoretisches Problem auch nur gestreift worden war, ohne dabei geltend zu machen, daß er nicht eine Partiturseite von mir umgeblättert hatte.
“Es wird dunkel”, murmelte ich (ohne Erwiderung), und es war so: ich sah kaum noch die Umrisse des Meisters, konnte weder die Bücher der Bibliothek auseinanderhalten, noch die Gegenstände auf dem Schreibtisch. Ich wandt mich um und wollte sehen, was vom Himmel und vom Garten übrig geblieben war: es war die letzte Phase des Sonnenuntergangs, schon lag alles im Dunkeln. Ich dachte daran zurückzukehren, wie ich es meinem Vater für diesen Abend versprochen hatte. Plötzlich hob der Meister wieder zu sprechen an, sehr langsam und leise:
“Sie deuteten die Situation heutiger Musik an.... Außerordentlich war die Revolution der Sprache (aber vielleicht existiert keine Sprache mehr, wie wir schon gesagt haben), außerordentlich war auch die Revolution des Instrumentenbaus. Dann gibt es den fürchterlichen Druck, der von der internationalen Pop-Musik kommt. Es ist eine Schande, daß man dasselbe Wort, Musik, für gegensätzliche Erscheinungsformen benutzt. Unterscheidet man nicht etwa zwischen Architektur und Bauwesen? Nicht anders jedoch ist es mit der Malerei, die von Darstellungen, die Sie als vortrefflich bezeichnen würden, bis zu scheußlicher Werbung reicht. Armut der Sprache und der Erkenntnis! Aber wir denken an die Musik im Sinne unserer großen Tradition, oder nicht? Warum sollten wir sie aufgeben? Weil sie keine soziale Funktion mehr hat? Weil sie heute nur noch dank heuchlerischen politischen Wohlwollens überlebt?
Aber in den Tagen, die kommen werden, in der großen Unordnung, wird auch sie verschwinden, wenn Schrecken, Elend und Tod jeden Klang verstummen lassen, es sei denn als Ausdruck der Verzweiflung. Und alle, die wohlwollend waren, werden es dann nicht bereuen, daß - sie werden es zur Geltung bringen - Musik aufgenommen, archiviert und gerettet wurde. Schon heute zählt nicht das Ereignis, sondern die Archivierung. In jenen Tagen werden wir anerkennen, was wir heute negieren, nämlich daß der Musiker, von dem wir sprechen, ein Initiierter ist.”
In einer Pause drängte ich dazwischen: “Aber, gewissermaßen war es immer so.”
“Sicher war es immer so, aber in unserem grenzenlosen lächerlichen Hochmut stellen wir nie die Hypothese auf, daß unsere Musik verschwinden, erlöschen, sterben, getötet werden könnte. Unserer Zivilisation könnte auch passieren, was anderen schon widerfahren ist: von der Musikkultur Ägyptens etwa, was ist davon geblieben? oder Griechenlands oder Roms? Welche Mühe bereitet das Verständnis und die Aufführung des kulturellen Erbes aus dem europäischen Mittelalter, sogar noch aus der Renaissance oder dem 17.Jahrhundert, ausgelöscht und aufgegeben, nicht mehr zeitgemäß! Hat man nicht im 20.Jahrhundert versucht, die große Musik Chinas zu unterdrücken? Ja doch, unsere Musik ist bedroht, von innen und außen, und nur ein initiatorisches Bewußtsein kann uns retten.”
Der Meister schwieg aufs neue, aber diesmal hatte ich nichts auszusetzen. Im übrigen fürchtete ich ihn zu ärgern, wenn ich es ausgesprochen hätte, nämlich instinktiv, aber auch aus vernünftigem Grund, jeder apokalyptischen Vision zu mißtrauen. So wartete ich, bis er das Schweigen wieder brechen würde. Es dauerte lange:
“Aber es ist ebenfalls sicher, daß jede Vorhersage töricht ist. Vielleicht sind diejenigen schon geboren, die auch die vernünftigste Vorhersage grotesk erscheinen lassen. Warum sollten wir damit Zeit verlieren? Denken wir nach über das, was uns der Geist in jener kurzen Zeit enthüllt, in der er sich uns gegenüber großzügig zeigt. Alles hängt von uns ab. Und wie es nicht möglich ist, mit verbundenen Fingern Klavier zu spielen, so muß sich auch unser Geist von jeglicher Befangenheit befreien, die jener Großzügigkeit entgegensteht.”
Jetzt sah ich nicht einmal mehr die Umrisse des Meisters. Folglich richtete sich meine Aufmerksamkeit auf seine Worte, die immer feierlicher aus der Dunkelheit zu mir drangen, aber auch aus einer Stille, die jeden Gedankengang alsbald unterbrach und sich immer weiter ausbreitete. Die Freunde, für die ich diesen bescheidenen Bericht von der Begegnung schreibe, mögen mir verzeihen, wenn dieses Schweigen nun nicht mehr mit Worten bezeichnet, sondern mit Leerzeilen wiedergegeben wird. Ich verschweige auch meine Gefühle, die von der zunehmenden Kraft seiner Vision mitgerissen wurden. Warum aber sollte ich darüber schweigen, daß der Zusammenhang von Dunkelheit und bis zum Delirium gesteigertem Denken, an dem ich aus welchem Grund auch immer teilnehmen durfte, zweifelsohne vom Meister selbst bewußt inszeniert worden war?
“Wenn Musik Erkenntnis ist, kann sich diese nicht anders offenbaren als in Ekstase. Im Unterschied zu anderen Formen, täuscht uns die musikalische Ekstase nicht. Hier offenbart sich uns die Idee in ihrer Einheit, gleichzeitig in ihren artikulatorischen Eigenschaften, in ihrer Konsistenz, die fest ist und doch fließend. Komposition und Dekomposition sind identisch. Das Ganze und die Teile. Es ist die privilegierte Vorwegnahme einer Konzertaufführung, für andere Ohren unhörbar, rein geistig, körperlos. Es gibt zwei Erlebnisebenen, die eine in zurückgezogener Individualität, die andere in Gesellschaft. Dazwischen geschieht die Erinnerung der Ekstase, d.h. Transkription, Komposition.”
“Es muß Sie nicht verwundern, daß das Erlebnis zweiten Grades von Musikern ausgeschlagen wird. Warum und für wen sollte also das ekstatische Erlebnis offenbart werden? Während die Menschheit vierundzwanzig Stunden an trügerischen Bildschirmen klebt und die Augen nicht abwenden kann. Doch nichts mehr sieht und zudem nicht nur die große Musik, sondern auch das Rauschen des Windes in einem Pappelhain überhört. Es hat die Götter, es hat die Natur verlassen und sich der Maschine hingegeben. Solche Musiker könnten auf die Komposition verzichten. Wenn sie noch komponieren, ähneln sie jenen Dichtern - einige von ihnen sind vortrefflich -, die ihre Werke weder publizieren noch vortragen. Manchmal denke ich selbst, daß mein Rückzug nach Montefeltro nur damit zu erklären ist, daß ich hier eine Zuflucht gefunden habe. Unbeweglich sehe ich mich selbst inmitten eines Glashauses, das von vier Gewölberippen aus Alabaster gehalten sowie von acht Engeln beschützt wird, und vernehme ekstatisch die Gesänge der Erde und die Klänge des Himmels. Ohne sie jemals zu transkribieren. Aber ich weiß auch, daß anhaltende und allzu intensive Ekstasen zum Tode führen, finde also ins einfache Haus zurück, zur alltäglichen Kompositionsarbeit, bei der es mir vergönnt ist, ein paar Fragmente hervorzubringen.”
“Die alltägliche Arbeit! Wäre die Idee oder ihre Offenbarung evident, würde Transkription anstelle von Komposition das richtige Wort sein. Doch selten ist es so. Weil die Idee fast immer vage, nebulös, dunkel, in der Ferne ist. Sie ist da, vor oder in uns, Schein- und Truggebilde, unbestimmte Hypothese, die es zu erobern und zu beherrschen gilt. Hoffnung auf Erfolg setzt voraus, daß das Licht mehr und der Nebel weniger wird, daß Wahrheit und Täuschung, Einfachheit und Banalität unterschieden werden. Eins mit dem Körper, erträgt der Geist die Diskontinuität, den fehlenden Zusammenhang, er müht sich ab und leidet.“
“Gründliches Hören heißt, sich mit dem Gesang und dem Rhythmus der Musik zu identifizieren. Bis hin zu einem exaltierten Zustand. Bis zur Agonie. Furchteinflößend ist die Musik. Man weiß es seit Jahrtausenden. Heutzutage deckt man sich mit Klängen ein, die Menschen nicht stören, aber die Stille zerstören. Die Stille ist bedrohlich geworden. Es versteht sich, daß man mit der modernen Technologie einen Aufzug, aber auch eine ganze Stadt, einen Platz, aber auch das Tal unter uns beschallen will und kann. Um die Erde hat sich schon ein riesiges künstliches Klangpolster gelegt. Ich weiß, daß es die anderen Planeten, die anderen Sterne beunruhigt.“
“Ich möchte glauben, mein junger Freund, daß Sie die Werke der großen Meister unserer Zeit studiert haben. Hören Sie nie damit auf, die Meister unserer wie auch anderer großer musikalischer Traditionen aus jedem Kontinent zu studieren. Schauen Sie auf all diese Werke mit der Gefühlskälte eines Biologen, der die Zellen eines Gewebes untersucht, mit der Aufgeschlossenheit eines Historikers, der sich verschiedenen Zivilisationen widmet, mit der Begierde eines Diebes, mit der Sinnlichkeit eines Liebhabers, und denken Sie, jauchzen, weinen, lachen, singen und tanzen Sie mit allen Musiken der Welt!”
“Ich denke an eine Musik, die, obwohl aus der Tradition hervorgehend, diese erneuern möge; denn erneuert ist die Welterfahrung des wahrhaft Weisen. Was weiß man heute von den vier Unermeßlichkeiten. Einige kennen sechs. Der Gesang solcher Kreuzung ist zu unterscheiden vom Gesang, der sich an die Götter richtet.”
“Vielleicht ist alles Illusion. Und bloß Tragödie. Mißtraue dem Wort! Man sollte schweigen, auf das Wehen des Geistes warten. Ihm gehorchen. Mit äußerster und ergebenster Demut arbeiten. Gesang und Aufhebung. Musik und Heiligkeit.”
Nach den letzten Worten zog sich das Schweigen derart hin, daß es mich - wir befanden uns zudem in totaler Dunkelheit - zu ängstigen begann. Ich reagierte auf lächerliche Weise, als ich leise sagte: “Meister, darf ich Sie unterbrechen?”, erhielt aber keine Antwort, wartete und versuchte es aufs neue: “Meister! Meister, hören Sie mich nicht?” Die Stille war schrecklich. Ich rückte auf dem Sofa ihm entgegen und rief nochmals, streckte den Arm aus, um die Armlehne seines Sessels zu berühren, murmelte ein letztes Mal “Meister!”, strich mit der Hand über die Rückenlehne und wurde von Panik erfaßt. Lag er ohnmächtig am Boden? Ich hätte ihn fallen hören. Hatte er sich im Zimmer fortbewegt? Er hätte mir geantwortet. Tastend ging ich zur Tür, fand einen Lichtschalter, die Schreibtischlampe ging an: da, neben dem Pult mit offenem Buch und dem Aschenbecher, zwischen den Blütenblättern, die von den welken Rosen gefallen waren, blickte mit hocherhobenem Kopf eine Eidechse in meine Richtung. Das Zimmer war leer, auch der Garten. Der Hausflur und die übrigen Zimmer lagen im Dunkeln. Ich rief laut, fast flehend. Was sollte ich machen? Hatte er sich zurückgezogen, war, ohne daß ich das Geringste bemerkt hatte, hinausgegangen? Was tun? Ich dachte, es wäre meine Pflicht, auf seine Rückkehr zu warten, und setzte mich auf meinen angestammten Platz, wartete zehn, zwanzig Minuten, müde, benommen, nicht mehr dazu fähig, einen Gedanken, einen Entschluß zu fassen. Ich ging hinaus in den Garten, und dann erst, als man in der Dunkelheit von dieser wunderbaren Welt nichts mehr sah, stellte sich die Gewißheit ein, daß ich den Meister nicht mehr sehen würde: ohne sich zu verabschieden, ohne mir ein Wiedersehen zu wünschen, hatte er sich entfernt. Mit dieser Überzeugung kehrte ich ins Studio zurück, nahm meine Mappe und ging hinaus. Nach wenigen Schritten drehte ich um und machte das Licht aus, sollte doch der Meister sich dessen sicher sein, daß ich verstanden hatte. Das Haus war leer.
Ich lief durch einige Straßen, um die Piazza zu erreichen, fand mein Auto und fuhr los. Am Ortsausgang von Sassofeltro sah ich auf der anderen Straßenseite eine menschliche Figur, die sich entfernte, zumindest war mir, als ob ich etwas gesehen hätte (selbstverständlich konnte ich mich bei der spärlichen Straßenbeleuchtung auch täuschen). In meiner Phantasie dachte ich an ihn, zögerte einen Augenblick, aber der Respekt überwog und ließ mich meinen Weg fortsetzen. In Pesaro, auch wenn es schon ein Uhr geschlagen hatte, fand ich noch ein Gasthaus, ganz in der Nähe des Meeres. Auf dem Zimmer machte ich mir sofort Notizen über die Begegnung. Doch erschöpft entschloß ich mich schlafenzugehen.
Am nächsten Morgen kehrte ich nach Hause zurück, nach Mantua, schrieb dem Meister am selben Abend einen Dankesbrief für die Zeit, die er mir gewidmet hatte, äußerte auch mein Bedauern, daß wir uns nicht mehr verabschiedet hatten. Zu meiner Überraschung antwortete er, mit wenigen Worten: “Ich hoffe Sie wiederzusehen. Wir werden uns Ihre Partituren ansehen.” Es vergingen einige Wochen; ermutigt von seinen Worten, schrieb ich ihm mit der Bitte, mich abermals zu empfangen, mit meinen Partituren. Es kam keine Antwort. Ich schrieb nochmal, erinnerte ihn daran, was ich als Einladung aufgefaßt hatte. Ihr könnt Euch vorstellen, was ich empfand, als nach etwa einem Monat ein Brief aus Rom ankam, in dem eine Frau, die sich als entfernte Verwandte bezeichnete, mir mitteilte, daß der Meister plötzlich verstorben sei. Im Rathaus von Sassofeltro wurde mir diese Nachricht bestätigt. Das Haus? stehe zum Verkauf. Die Bücher und Papiere des Meisters? seien alle an einen anderen Ort gebracht worden. Wohin? niemand wußte es.