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© Angelica Savinio / Joachim Noller 2007

 

Alberto Savinio: Texte zum Musiktheater (1942)

 

aus dem Italienischen übersetzt, herausgegeben und eingeleitet von Joachim Noller

 

 

Alberto Savinio (1891-1952) ist Musiker, Maler und Literat. Letzterer wird rezipiert; fast wundert es, wieviele seiner anspruchsvollen, hintergründigen Texte auf den deutschen Buchmarkt gelangt sind. Daß er gemalt hat, ist bekannt, auch wenn diese Tätigkeit im Schatten des berühmten Bruders Giorgio de Chirico wahrgenommen wird. Der Musiker könnte eine Erfindung sein: so wie in seinen Texten stets Autobiographisches und Mythologisches verknüpft wird, man oft nicht weiß, ob die Vita des Künstlers mythologisiert oder mythische Erzählung autobiographisch angeeignet wird, so scheint auch die Musik bisweilen nur imaginär vorhanden. Und doch hatte Savinio zunächst ein großes Ziel: als Komponist anerkannt zu werden[1]. Er versuchte es in München, Florenz, Paris, fand Beachtung, aber nicht in musikalischen Kreisen. Einen Wendepunkt markierte die Einberufung zum Kriegsdienst anno 1915; fortan stand das Wort im Mittelpunkt seiner Ausdrucksformung, und dennoch blieb er im Grunde seines Herzens Gesamtkünstler, künstlerischer Netzwerker. Wie viele gab es, die in der Gestaltung von Wort, Bild und Ton, die in all diesen Bereichen Professionalität erlangten? Savinios Tongebilde freilich stießen nicht auf Resonanz und wurden auch nicht fortentwickelt. 1942 schließlich erfolgte eine neue Hinwendung zur Musik; nicht, daß ihm Wort und Bild gleichgültig geworden wären, vielmehr schien es nun wieder möglich, diese mit Tonformen zusammenzudenken, zu verbinden. In der gewandten, metaphernreichen Rede eines Homme de lettres äußerte er sich zu solchen Ideen und bediente sich als Projektionsfläche zweier aktueller Inszenierungen von Werken Pergolesis und Werner Egks (die Verbindung ideeller Brisanz mit literarischer Qualität hat den Herausgeber zu dieser Edition motiviert).

Der Aufsatz zu Egks Peer Gynt war, so können wir annehmen, als Erstaufführungskritik geplant; Savinio schrieb sich jedoch in „Rage“, entfaltete am fremden Beispiel seine eigene Konzeption vom Mehrkunstwerk. Dabei sollte das klassisch-moderne Postulat von der Trennung der Elemente, von ko- und nicht mehr subordinativen Verhältnissen, konsequent umgesetzt werden. Jegliche Vertonung wird als problematisch erkannt, weil Musik dazu tendiere, die anderen Ausdrucksmittel, auch in struktureller Hinsicht, zu dominieren. Ziel der neuen Dramaturgie ist daher die Einbindung, Einordnung, Relativierung der Tonkunst. Wenn Savinio nun weitergeht und das Konzept eines „touristischen“ Musiktheaters entwickelt, scheint er einen Bogen von der frühen zur späten oder auch Post-Moderne zu schlagen. Die kompositorische Collage, das allusive Geflecht, der Verzicht auf die Stringenz eines Tonsatzes im allgemeinen sowie eines Personalstils im besonderen verweist auf künstlerische Merkmale, die erst Jahre nach Savinios Tod en vogue wurden (dazu gehört – wir deuten es nur an – auch Savinios inhaltliche Ausrichtung, die sich von Egks Moralismus[2] distanziert: anstelle des Gut-böse-Schemas tritt die Neugier des „Zeitreisenden“). Und dennoch ist diese postmoderne Konzeption formal nicht anders motiviert als die protomoderne Trennung der Ausdrucksmittel: alles zielt auf ein koordinatives Gesamt- oder Mehrkunstwerk, in dem die Musik wie ein dramatisch fundierter Bilderreigen vorüberzieht, ohne sich ausdrucksmäßig oder struktural zu verfestigen. Der Begriff „Musiktheater“ impliziert hier keine Basisfunktion tonkünstlerischer Gestaltung; gleichwohl stellt sich Savinio in die Entwicklungsgeschichte einer musikalisch fundierten Gattung, benutzt häufig auch den Begriff „Melodramma“, wie traditionell die italienische Oper genannt wird.

 
 

Zu den Werken von Giovanni Battista Pergolesi und Werner Egk:

 

Anno 1731 wurde im Kloster Sant‘ Agnello Maggiore von Neapel Pergolesis Dramma sacro Li prodigi della divina grazia nella conversione e morte di San Guglielmo Duca di Aquitania[3] uraufgeführt (Libretto: Ignazio Maria Mancini). Die Seneser Aufführung von 1942, der Savinio beiwohnte, ist in einem Programmheft der Accademia Chigiana dokumentiert. Der Werkfassung mit dem KurztitelGuglielmo d’Aquitania lag offensichtlich eine Bearbeitung zugrunde, bei der dramaturgische („revisione e adattamento: Corrado Pavolini“) wie auch spezifisch musikalische Eingriffe („elaborazionne di Riccardo Nielsen“) vorgenommen worden waren. Savinio würdigt den Beitrag Corrado Pavolinis (1898-1980), der als Schriftsteller und Regisseur schon seit Jahren - zeitweise im Umkreis des Futurismus - an der Modernisierung des italienischen, vor allem des römischen Kulturlebens beteiligt war.

Die Oper Peer Gynt von Werner Egk (1901-1983) entstand 1937-38 (Libretto: Egk nach Henrik Ibsen) und wurde am 24.November 1938 an der Staatsoper Berlin uraufgeführt. Die italienische Erstaufführung in Turin erfolgte Anfang Mai 1942 (im Schott-Verlag ist ein Kurzbericht des "Nachrichten-Bureaus Argus" vom 7.5.1942 archiviert). Ursprünglich schloß Savinios Text Peer Gynt di Werner Egk im Stile traditioneller Aufführungskritik mit der Erwähnung beteiligter Künstler; im Typoskript ist dieser letzte Absatz durchgestrichen. Kritisiert wird das Bühnenbild, das sich der Autor „besser abgestimmt mit dem Charakter des Schauspiels oder auch weniger ‚aristotelisch‘-konventionell“ vorstellt. Man beachte, daß Savinio in den kommenden Jahren selbst als Bühnenbildner in Erscheinung trat.

  
 

Zu den hier edierten Texten Savinios:

 

Die beiden Texte werden hier erstmals in deutscher Sprache publiziert; auf italienisch liegen folgende Veröffentlichungen vor: Si comincia a veder uno spiraglio unter der Rubrik Musica in der Zeitschrift Documento, Oktober 1942, S.22, sowie Peer Gynt di Werner Egk in der Rubrik La Musica der Zeitschrift Film, 16.Mai 1942, abgedruckt in: Alberto Savinio, Scatola Sonora, Torino (Einaudi) 1977, S.250-252. Grundlage unserer Übersetzung sind Typoskripte mit handschriftlichen Korrekturen, die sich im Archivio „A.Bonsanti“ des Gabinetto Vieusseux von Florenz, im dort archivierten Fondo Alberto Savinio befinden (Scatola 44-23, 26-16). Jeder Aufsatztitel entsprach dem journalistischen Kontext, als Teil einer Beitragsserie, die in der jeweiligen Zeitschrift zum Musikleben veröffentlicht wurde; wir haben neue inhaltsbezogene Titel hinzugefügt. Das Typoskript von Si comincia a veder uno spiraglio trägt das Datum „29-9-42“; unterzeichnet ist dieser Text mit dem Pseudonym Proteo (Proteus): darin manifestiert sich Savinios Hang zur Selbstmythologisierung.

Mein Dank gilt Frau Angelica Savinio in Rom sowie den Mitarbeitern des Gabinetto Vieusseux in Florenz, die mir zum Savinio-Nachlaß bereitwillig Zugang gewährten. Die Veröffentlichung vorliegender Texte geschieht mit freundlicher Genehmigung von Angelica Savinio.

 

 

 
 

 

 

Alberto Savinio

 
 

Das touristische Melodramma

[Peer Gynt di Werner Egk]

 
 

Mehrfach habe ich meine Zweifel hinsichtlich einer eventuellen Wiedergeburt des Musiktheaters geäußert. Irgendwann werde ich die Geschichte jenes „Wissenschaftlers“ erzählen, der die Toten wiederauferstehen ließ, indem er ihr Hirn mit elektrischer Energie auflud, dabei aber nichts anderes vollbrachte, als den Leichnam in Bewegung zu versetzen, welcher mit elender Monotonie endlos die letzte Geste seines Lebens wiederholte.

Die neuen Werke, die ich in den letzten Jahren gehört habe, deuteten nicht darauf hin, daß das Melodramma wiederbelebt werden könnte, eher hatte es den Anschein, als ob sein Leichnam für die kurze Spanne eines Abends zu einer Art mechanischer und erschreckend lebloser Bewegung zurückfände und dabei mit elender Monotonie die letzte Geste seines Lebens wiederholen würde.

Alle Werke außer einem.

Diese seltene Vogelfrau („heilige Vogelfrau“ nennt Luigi Pulci die Madonna) ist der Peer Gynt des bayerischen Komponisten Werner Egk, der vor wenigen Tagen am Turiner Teatro Vittorio Emanuele vom Ensemble des Teatro Regio in Italien erstaufgeführt wurde.

Peer Gynt ist eine jener sogenannten „Kontaminationen“, die die Kraft haben, eine beträchtliche Anzahl meiner Kollegen in Rage zu bringen. Dieselben denken nicht daran – sie sind darin geübt, nicht zu denken -, daß auch Werke von Shakespeare im Verhältnis zu Plutarch, von Racine im Verhältnis zu Euripides Kontaminationen sind, daß Euripides und Plutarch ihrerseits....  In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an die Empörung einiger Homunculi anläßlich der Aufführung meines Balletts La morte di Niobe und meiner Komödie Capitano Ulisse; denn der Mensch erblindet zunehmend, je kürzer sein Verstand reicht, und folgt seinen Idolen, fürchtet nichts mehr, als daß die Autorität der Idole nachlassen könnte. In einem Gebiet, das von solch traurigen Zwergen bevölkert ist, stört es nur, nach den Regeln der Kunst zu spielen, d.h. sich wie einen bunten Ball Gegenstände zuzuspielen, um sie in Musik zu setzen,  Phrasen, um sie zu paraphrasieren, Themen, die wie bei einem Kometen immer neue Variationen bilden. Wenn vierundzwanzig Buchstaben des Alphabets dazu geeignet sind, die unendlichen Phantasien unseres Gehirns zum Ausdruck zu bringen, und mit sieben Noten der Tonleiter eine immense Vielfalt an Klängen komponiert wird, ist das künstlerische Spiel nichts anderes als eine lange, kontinuierliche, unendliche Variation.

Das vorherrschende Qualitätsmerkmal des Peer Gynt ist seine nicht-aristotelische Anlage, die große Freiheit der Zeit, des Ortes und der Handlung. Selbige Freiheit findet sich schon in Ibsens Text, wird aber in der Reduktion und Paraphrasierung von Egk gesteigert. Ich meinerseits hätte noch mehr Freiheit angestrebt.

Nachdem wir auf einer anderen Stufe geistiger Entwicklung angekommen sind, ist das in sich geschlossene Werk nicht mehr tragfähig. Die Luft des Dramas liegt zu schwer auf unseren Lungen. Es bedarf einer Überdosis an roher, naiver Gesinnung, um unser Auge, unser Ohr auf das „persönliche“ Drama einer Figur zu lenken, und die Geschichte des Gevatters Turiddu, von Violetta, selbst von Siegfried droht uns - über alles andere hinaus (und dieses „über alles andere hinaus“ verweist auf die Qualität der Musik) - zu ersticken. Boris geht einen Weg, der weniger der „eigenen“ Geschichte verhaftet, weniger eigennützig ist, und deshalb können wir ihm noch folgen. Spielstätte unserer Komödie wird das Universum, und Figuren in diesem Theater werden alle Dinge des Universums sein, die in einem riesigen Defilee à la Folies-Bergère an uns vorüberziehen. Und die Lektüre, die wir noch zu ertragen vermögen, besteht aus den touristischen Büchern von Stendhal.

Wenden wir uns mit neuem Vergnügen dem Musiktheater zu und setzen auf die Entstehung des touristischen Melodrammas.

„Touristische“ Qualitäten finden sich schon in diesem Peer Gynt, und Peers Leben präsentiert sich wie eine Zeitreise. Ich sag es noch deutlicher: in den bewegendsten Szenen - z.B. Peer in Amerika - herrscht eine ausgeprägt touristische Stimmung; Phantasie und Poesie sind von touristischer Art und als solche wahrhaft „merkwürdig“. Wir warten darauf, daß Werner Egk In 80 Tagen um die Welt von Jules Verne in Musik setzt, das sowohl leichter als auch tiefgründiger ist als Ibsens Peer Gynt.

Touristische Qualitäten sind wohlbemerkt auch in der Musik von Peer Gynt. Werner Egk ist ein musikalischer Tourist, sein Reisegefährt passiert die Station Wagner, die Station französischer Cancan, die Station Jazz usw.; und in der „kolonialen“ Romanze, die Peer auf der Hafenmole der mittelamerikanischen Stadt singt, ist etwas von Gauguin.

Das „amerikanische“ Bild ist das schönste und poetischste des ganzen Werks. Schön ist auch Peers „Traum“, der das Bild der amerikanischen Hafenschenke beschließt. Schade, daß Egk in der Szene mit den drei schwarzen Vögeln des siebten Bilds uns in die Atmosphäre der Götterdämmerung zurückführt. Man hat den Eindruck, das Schiff des Musiker-Touristen sei auf eine Sandbank gelaufen.

Ich kenne keine anderen Werke von Egk. Nachdem ich Peer Gynt ein einziges Mal gehört habe, läßt sich nicht erkennen, ob dieser so intelligente und „gewappnete“ Komponist eine besonders erfinderische Fähigkeit besitzt. Seine Musik, sehr eloquent formuliert, bedient sich häufiger Wiederholungen, einfacher, nackter Formen. Seine Themen sind von gemeiner Schönheit, bisweilen ist ihnen ein süßlicher Ton eigen. An einer bestimmten Stelle (im Intermezzo, wenn ich nicht irre, zwischen dem siebten und achten Bild), scheut er sich nicht, das Thema Fingals Höhle von Mendelssohn zu entnehmen, einem Eckpfeiler in der musikalischen Untermalung von Stummfilmen, anders gesagt: das Fleisch in alle Saucen zu tunken. Was soll's? Hatte Wagner ein erfinderisches Talent in seiner Musik? Es genügt, vor allem für Theaterkomponisten, gut kombinieren zu können, und seien es Themen fremder Herkunft.

Dem Theater widmen sich Musiker, die mit wahrer, mit voller musikalischer Begabung ausgestattet sind. Auch Werner Egk...

Egks Orchestersatz ist außerordentlich flüssig. Schade, daß er noch dem fetten, ausgestopften Orchesterklang in der Manier Wagners verpflichtet ist. Wie kommt es, daß dieser so intelligente, geistvolle, „moderne“ Komponist das Orchester nicht entfleischt, nicht die „intime“ Stimme jedes Instruments herausholt, um aus dem Orchester einen Hühnerhof oder zoologischen Garten zu machen wie Strawinsky? Sollte er In 80 Tagen um die Welt  komponieren, möge Werner Egk sich unserer Worte erinnern.

 

 

 

 

 

 

 

Alberto Savinio

 
 

Hoffnungsschimmer im Musiktheater

[Si comincia a veder uno spiraglio]

 
 

Im September hörte ich in Siena Guglielmo d'Aquitania von Giambattista Pergolesi, im Mai Peer Gynt von Werner Egk in Turin; dabei habe ich den Eindruck gewonnen, daß eine neue Form des Musiktheaters (d.h. der Oper, des Melodrammas) entsteht: jene neue Musiktheaterform, die man seit dem Ende des Wagnerschen Theaters oftmals zu entdecken glaubte, doch immer vergebens: sei es im russischen Ballett, sei es in bestimmten Opern wie L'heure espagnole von Ravel, oderMavra, Le Rossignol von Strawinsky.

Es ist wohlüberlegt, wenn bei der Erörterung neuer, nachwagnerscher Musiktheaterformen das veristische Melodramma keine Erwähnung findet, weil es in der Geschichte des Musiktheaters eine traurige Parenthese darstellt: eine gänzlich instinktive, spontane Parenthese ohne jegliches Stilempfinden (gegen alles, was instinktiv, spontan ist, hege ich, man verzeihe mir das kränkliche Gefühl, tiefen Abscheu); und hier sprechen wir nur von stilbildenden Faktoren der Musik.

Es bedarf einer weiteren Erklärung: wie kann sich unter den Beispielen, die mir die Idee eines neuen Musiktheaters suggerieren, auch  Guglielmo d'Aquitania befinden, ein Dramma sacro, das Giambattista Pergolesi anno 1731 schrieb?... Ich kann es erklären: bei der Aufführung des Guglielmo d'Aquitania, die wir vergangenen September in Siena gesehen haben, ist das Stück von Corrado Pavolini gründlich und radikal bearbeitet worden, aufgeteilt in Partien, die gesprochen, rezitativisch sowie arios gesungen werden, so daß man sagen kann, als dramatisches und theatrales Werk stammt die Seneser Version des Guglielmo d'Aquitania mehr von unserem Zeitgenossen Corrado Pavolini als von Ignazio Maria Mancini, Autor des Dramma sacro, das Pergolesi mit Klängen schmückte.

Ich habe den Eindruck gewonnen, daß eine neue Form des Musiktheaters entsteht, und dieser Eindruck wurde durch das abgegriffene Erscheinungsbild der zwei Opern hervorgerufen: durch die durchbrochene Oberfläche, die offene, „unverputzte“ Form der Musik, ihre ärmlich-löchrige Ummantelung. Vielleicht fällt jetzt endlich das letzte Wagnersche Hindernis, welches das Musiktheater bisher davon abhielt, seine Unabhängigkeit zurückzugewinnen. Es ging darum, das Musiktheater vom geschlossenen und totalitären Charakter des Wagnertums zu befreien. Man mußte es herausholen aus Wagnerschen Fluten, wie man aus den Tiefen des Meers ein havariertes U-Boot herausholt, ihm Luft zuführt und so das Leben der Mannschaft rettet. Wagner hatte das Musiktheater in der Art eines Schmorbratens konzipiert (gekocht à l'étuvée), und die Wagneroper ist vollkommen versunken, untergegangen in der Musik; da besteht keine Hoffnung, daß Erdenluft eindringen und sich vermengen könnte mit der metaphysischen Luft der Poesie und dabei jene geheimnisvolle Mischung gelänge, die Kunst hervorbringt; die Wagneroper ist bar jeden Sinns, jeder dramatischen Möglichkeit, weil der dramatische Funke nicht zündet, es sei denn, es baut sich zwischen Physischem und Metaphysischem eine gewaltige Spannung auf. Hat man sich je gefragt, worauf die einzigartige, außergewöhnliche, Schwindel erregende Poesie einiger Melodrammi wie Trovatore, Ballo in maschera beruht?... Der Grund ist folgender: die gewaltige Spannung zwischen Physischem und Metaphysischem.

Guglielmo d'Aquitania, Peer Gynt: Werke mit Entlüftung, perforierte Werke, wie die Käfige, in denen man Kanarienvögel transportiert. In solchen Werken zirkuliert die Luft – wenn auch nicht in dem Ausmaß, wie es uns gefallen würde. Um das Musiktheater wieder ins Leben zu holen, müßte man es in die Lage versetzen, eine neue, starke Dramatik hervorzurufen; um das zu bewirken, müßte die musikalische Kontinuität unterbunden werden. Quintessenz: ein neues Musiktheater sollte sich zuallererst der Musik entziehen. Dann, auf freiem, trockenem Feld, könnte die Musik zurückkehren, plötzlich, unerwartet, wie eine Erscheinung, eine Überraschung, sei sie nun dämonisch oder engelhaft: jedoch in kleinen Dosen – beharrlich und abwechselnd. Um das Untertauchen in der Musik und die daraus folgende Erstickung zu verhindern.

Eine weitere unverzichtbare Bedingung für die Wiedergeburt des Musiktheaters bestünde darin, die Sänger von der Bühne zu verbannen. Im 19.Jahrhundert entkräftete die Bühnenpräsenz der Sänger nicht den puppenhaften, d.h. auch metaphysischen Charakter des Melodrammas, weil die Sänger damals lebende Puppen waren. Aber zwischen das 19.Jahrhundert und heute hat sich die veristische Oper gedrängt, wurde den Sängern gelehrt, sich auf der Bühne wie wirkliche Menschen zu verhalten, und nichts ist verderblicher für das Melodramma als solche Wirklichkeit.

Doch es gibt Abhilfe: es genügt, das zu verallgemeinern, was im vergangenen Jahr in der Aufführung der Mavra von Igor Strawinsky geschah: die geistreichste und intelligenteste Interpretation, die das Teatro Reale dell'Opera uns bisher präsentiert hat. Die Sänger wurden in den Orchestergraben versenkt und auf der Bühne durch Mimen ersetzt. Eine hervorragende Idee, daß die Sänger den auf der Bühne agierenden Mimen von unten ihre Stimme leihen. Die Vorteile dieser Aufstellung: größere Tragweite der Stimmen, die aus der Leere des Bühnenraums herauskommen in den resonierenden Zuschauerraum; Gewandtheit und Ungezwungenheit in den Bewegungen der Bühnenfiguren, die nicht mehr die Sorge quält, gleichzeitig singen und vortragen zu müssen; vor allem Durchsetzung eines indirekten Stils, oder eines Stils schlechthin.

Proteo

 



 

[1] siehe die enzyklopädischen Artikel in: Musik in Geschichte und Gegenwart, sowie in: Komponisten der Gegenwart.

[2] zu Egks Eigeninterpretation siehe auch: Werner Egk, Musik – Wort – Bild. Texte und Anmerkungen. Betrachtungen und Gedanken, München (Albert Langen/ Georg Müller) 1960, passim, sowie ders., Die Zeit wartet nicht, Percha/ Kempfenhausen (R.S.Schulz) 1973, passim.

[3] siehe Roger Covell, Purpose, consistency and integration in Pergolesi’s „San Guglielmo“, in: Studi Pergolesiani – Pergolesi Studies 2, hg. v. Francesco Degrada, Firenze (La Nuova Italia Editrice) 1988, S.67-77.