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© Giuliano Scabia / Joachim Noller 2007

 

 

 

Giuliano Scabia

 

Auf Wegen, durch Wälder

 

 

aus dem Italienischen übersetzt, herausgegeben und eingeleitet von Joachim Noller

 

 

Giuliano Scabia wurde 1935 in Padua geboren. Als Theatermann, der nicht nur Stückeschreiber war, sondern auch einen Aufführungsstil kreierte, hat er sich einen Namen gemacht; und während er hier zu den großen Erneuerern der 60er und 70er Jahre gehört, sind seine Prosawerke einer neuen Narrativität verpflichtet, die in der Literatur des ausgehenden 20.Jahrhunderts Schule macht. Verbindungslinien zur Musik könnten wir in einigen Bühnenwerken oder Romanen aufzeigen, noch deutlicher wird die Verknüpfung naturgemäß in der Zusammenarbeit mit mehreren Komponisten (der erste war 1963-64 Luigi Nono mit dem Opernprojekt Diario italiano [1]. Wir haben es jedoch dem Autor überlassen, selbst einen Text zum Themenbereich „Literatur und Musik“ auszuwählen. Über den Grund seiner Wahl mag jeder Leser, jede Leserin sich eigene Gedanken machen.

Ein paar Anmerkungen mögen dieser - hoffentlich lustvollen - Reflexion vorausgehen.

Wer Scabia persönlich begegnet, lernt einen großen Erzähler kennen, der die mündliche, die „stimmhafte“ Vermittlung literarisch-dramatischer Diskurse pflegt. Der vorliegende Text sucht solcher Erzählhaltung auf den Grund zu gehen; deren Prinzipien werden poetologisch hinterfragt und poetisch dargestellt. Das Werden, das Anwachsen und die gegenseitige Durchdringung von Erzählsträngen in unserer menschlichen Welt schildert Scabia, als handle es sich um ein im Entstehen befindliches großes polyphones Werk, um Musik, oder besser: um musica im alten Sinn, gemeint ist eine Idee von Musik, die Idee einer universellen Struktur, die alles Seiende umfaßt und als musikalisch bezeichnet wird.

 

Per sentiero e per foreste hatte auf dem Festival von Polizzi Generosa (Sizilien) im August 2004 seine mündliche Premiere und wurde in einer erlesenen Anthologie poetologischer Texte veröffentlicht: Giuliano Scabia, Il tremito. Che cos’è la poesia?, Bellinzona (Edizioni Casagrande) 2006, Seite 80-87. Den Umschlag schmückt eine Zeichnung Scabias, die im Titel - Gesäusel am Ohr Gottes - auf unsere Thematik anspielt.

Wir danken dem Autor wie auch dem Verlag für die Erlaubnis, den Text hier erstmals in deutscher Sprache herauszugeben.

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Giuliano Scabia

 

Auf Wegen, durch Wälder

[Per sentiero e per foreste]

 

 

Vor einigen Tagen – am Morgen –

als ich im Wald spazieren ging, genannt

Foresta di Vincigliata

und ein leichter Wind durch die Pinien und jungen Eichen rauschte,

und die Grillen zirpten, in großer Zahl,

und aus der Ferne ein Hupen heraufdrang,

und meine Sandalen festen Schritt auf dem abschüssigen Pfad suchten,

läutete unversehens das Telefon in meiner Tasche –

zarter Ton – cri cri:

ich nahm ab:

es war der Kritiker Massimo Marino, der mich über das Interview mit Mimmo Cuticchio informierte, das in der „Unità“ erschienen war:

aber durch die Bäume hörte ich schlecht und sagte:

ich kauf die Zeitung, les sie und ruf Dich an:

und er: ja:

dann kam mir sofort der Gedanke:

Grille, Luft und Wind, Baumesrauschen, Schritte, Hupen, Telefonläuten, die Stimme aus mir und aus der Ferne

sind alles Erzählungen –

sie zu hören, ist das Ziel unserer Erzählung.

 

Liebe Freunde, verehrte Bänkel- und Balladensänger,

Marionettenspieler, Dichter, Darsteller, Erzähler, Puppenspieler,

Zeichner, Maler, Konstrukteure, Rangierer, Leute im und jenseits des Theaters,

begeisterte Wissenschaftler,

ganz allmählich hab ich's gelernt,

daß die Welt aus Dingen gemacht ist, aus Zeit, lebendigen Wesen, Träumen

und aus Stimmen, die eine Gegenwart verhandeln.

 

Stimmen.

Der eine erzählt besser, der andere schlechter,

einer hat duende (wie Lorca sagt), der andere nicht –

aber heute – 30.Juli 2004 – will ich einen Moment lang

von den alltäglichen und bescheidenen Stimmen sprechen, die,

zusammen mit jenen erhabenen der Dichter und Erzähler,

das Gewebe aus vielen Plaudereien am Leben halten,

ohne das die großen Erzählungen und Gesänge nicht existieren würden:

Plaudereien an der Haustüre, in Geschäften,

am Telefon, Zwiegespräch von Verliebten, Streitereien,

das Rauschen des durch Schwerkraft verzauberten Wassers,

das Knistern sich öffnender Blütenblätter,

der Flügelschlag eines Schmetterlings oder sein bewegungsloses Schweigen auf der Blume,

das Summen der Bienen

und alle Geräusche-Klänge-Erscheinungen,

die wir Stimmen nennen können,

insofern sie etwas an- oder hervorrufen.

 

Wind, Hauch, Atem.

Was für eine Geschichte hat der Wind,

anemos und spiritus – Seele, Ort des Atmens, Blasebalg und Sackpfeife,

ein Hauch von dem, das Leben hat,

und von dem, das es nicht zu haben scheint

wie der Mond oder die Galaxien

mit ihren Pirouetten und kosmischen Winden.

 

Vom alten lateinischen Wort semita (Weg, Pfad)

kennt man nicht die exakte Ursprungsbedeutung:

es mag einst Wege bezeichnet haben,

die kaum entstanden waren,

Schneisen, die geschlagen wurden, als die Völker vordrangen,

auf der Suche nach Tieren, Wasser, zur Wärme, zu den Sternen –

Indoeuropäer und andere,

kriegerische Nachtschwärmer, von Drachen geängstigt

und oft ihre Beute –

mutige Eremiten, die in Grotten voller Insekten hausten, von Löwen und Schlangen umzingelt,

Bewohner ausgedehnter Wälder überall

und Holzfäller, die rodeten, um zu pflanzen, zu weiden, Gehege zu errichten, Hütten und Feuerstellen.

Ja sie, auf diesen Ameisenpfaden,

in Gruppen stets bedroht und selbst bedrohlich,

dabei sich übend im Liebesakt – und in einer Poesie der Liebe –

inmitten von Gewalt und Vernichtung,

und das Wohlsein inmitten von Hunger, Pest und kurzem Leben,

mit schlechten Zähnen und Verkrüppelungen,

die Kinder totgeboren und die Mütter geburtenverwüstet,

Überfälle, um Frauen und Kinder, Tiere als Nahrung zu rauben,

ja, sie hatten von solchen Dingen viel zu erzählen –

zum Beispiel, daß es Orte gebe, wo man nicht hingehen durfte,

und daß man Monster gesehen habe mit sieben Köpfen und hundert Augen und Feuer im Maul,

böse und gute Zauberer,

Räuber mit einer Keule oder Flinte

und Frauen, beleibt und schön, nackt, Matronen,

dazu bestimmt, hundert Kinder zu gebären.

Ich stelle mir vor, wie sie bei Dunkelheit das Feuer anzündeten,

dort, wo zwei oder drei Pfade sich zur Lichtung öffneten –

Lichtung, Ort des Lichtes – Tempel –

und sitzend, am Fleisch nagend, mit einer Kastanien- oder Froschschenkel-Bohnensuppe, bitterem Gebräu,

umgeben von Bestien, die auf Knochen aus waren,

doch gab es, erstmals im Laufe der Evolution,

auch Geschichten, von denen sie nichts verstanden,

auch wenn sie in der Sprache der Neanderthaler und des Homo sapiens davon sprachen – Geschichten,

die zu hören Vergnügen bereitete,

weil man so in der Gemeinschaft von jenem merkwürdigen Wesen hörte,

auch einem Tier, das jedoch

im Vergleich zu anderen Erdenbewohnern viele Worte machte,

mit einem nicht allzu großen Maul,

doch äußerst gefräßig und schwatzhaft.

 

So also stelle ich mir die Pfade des Erzählens vor:

und jene Lichtungen oder Berggipfel,

wo vielleicht Hüttenwände hochgezogen wurden und Liebeshöhlen entstanden,

mit Töpfen und Erinnerungsstücken, Reden, Plaudereien, erinnerst du dich, ich erinnere mich –

ich stell es mir vor als keimhaften Ursprung von dem, wo wir uns heute befinden,

Kirche von San Francesco,

wir Tiere, die nach dem Sinn des Erzählens fragen.

 

Erzähl mir eine Geschichte, halt mich am Leben. Sag mir, wie es dir geht.

So, denke ich, spricht der Seelengedanke, der sich stets durstig zeigt

und aus vollen Zügen atmet:

halt mich am Leben: hebe mich hoch (in den Wind),

sospeso, wie die Italiener sagen:

gehoben, erhoben, aufgehoben, hängend und schwebend

über dem großen Abgrund des Universums, das atmet und sich ausdehnt,

von Neugier getragen:

und laß mich nicht los,

sagt die Seele zum Atem,

ich bitte dich,

denn in dieser Nacht sehe ich nur undeutlich.

 

Klar ist dagegen die Nacht, mit ein bißchen Wind,

wenn die Stimme ein Wimmern von sich gibt,

ein Flehen, das auf der Suche nach der Mutter umherirrt (der Mutter aller Erzählungen).

Ich bin hier, hör mir zu – sagt es.

Sei still, horch – sagt sie.

Schlaf Kindlein schlaf oder Weißt du wieviel Sternlein stehen.

Ihrem immer noch wachen und verängstigten Kind erzählt die Mutter

vom Geheimnis des Kommens und Gehens,

der vier Reiter und der Erinnerung. Erinnerung,

die Quelle, aus der alle trinken.

 

Ausgehend vom Auf und Ab der Kinderreime,

hinauf durch rauschende Säfte und sich offenbarende Landschaften –

auf Bahnen, auf denen alles vorwärts und zurück läuft – Perpetuum immobile –

durch die scheinbare Unbeweglichkeit der Steine und die Beweglichkeit des Lichts,

geschieht ständig Offenbarung, von Pfad zu Pfad,

wenn man die Schönheit solcher Vielfalt sieht und hört,

Millionen von Sprachen, die Insekten, Gräser, Sterne, Menschen sprechen, um sich bemerkbar zu machen –

Fragmente einer langen, endlich-endlosen Rede

wie das Zahlensystem – Logos, wozu alles gehört –

deshalb drängt es mich bisweilen, den berühmten Anfang des Johannesevangeliums so zu übersetzen:

im Anfang war eine große Erzählung,

eingeschlossen in einen unendlich dichten Kern,

der sich dann öffnete und aufging in viele Reden, Venen, Arterien, Pfade, Wege;

und in jeder Vene, jedem Pfad ist die Form der großen Erzählung:

so hat sich die große Erzählung inkarniert in Stimmen, Körpern, Sachen,

in allen Körpern und Sachen, die existieren, überall – und alles,

auch in den entferntesten und stillsten Orten ist immer sie – die Erzählung, Zahl und Fabel,

bescheidene Weisheit,

die sich in allem offenbart, was ist und erscheint,

unendlich zahlreich,

Pfad, der nicht endet, wie die Zahlen, nie.




[1] siehe: Joachim Noller, Diario italiano und La Fabbrica illuminata. Über die Zusammenarbeit von Luigi Nono und Giuliano Scabia nebst einigen Anmerkungen, in: Zwischen Aufklärung & Kulturindustrie. Festschrift für Georg Knepler, hg.v. H.-W.Heister u.a., Bd.2, Hamburg (von Bockel) 1993, S.155-170.