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© Joachim Noller 2007/ 2016

 

 

 

 

Joachim Noller

 

„Wer nicht ruhen und horchen mag“

Wilhelm Müller und die Musik (ohne Schubert)

 

 

Gleich zu Beginn ein Geständnis: auch ich habe Wilhelm Müller (1794-1827) als „Dichter Schuberts“ kennengelernt, vor allem als Autor der Winterreise, war aber von Musik und Text gleichermaßen fasziniert, glaubte bald verstanden zu haben, dass es nur wenige Meisterwerke abendländischer Vokalmusik gibt, die auf eine an sich schon meisterhafte, künstlerisch vollgültige und sich selbst genügende Sprachdichtung komponiert wurden, ohne dieselbe tiefgreifend zu verändern. Zeit verging, bis ich mich dem Literaten, seiner Kunst widmen konnte und die Qualität auch nicht vertonter Texte für mich entdecken durfte. Es ist vor allem Lyrik, die auf Anhieb zu überzeugen vermag, Lyrik, die in Müllers Vorstellung (können wir sie hier als typisch romantisch bezeichnen?) immer mit dem Liedbegriff und mit der Ausdrucksform des Singens verknüpft war. Spielt diese Literatur, so wie sie dasteht, nicht per se (auf) Musikalisches an? Musik ist als Idee und Sujet vorhanden, in verschlüsselt-esoterischen Bildern, auch exoterisch, wenn sie in der Poesie (und nicht nur im kritischen Blick des Kulturbeobachters[1]) verhandelt wird. Solche Themen bewegten mich, als ich (als Nachzügler?) Musikalischem aus der Wortperspektive nachzuspüren begann.

 

***

 

Am Ende der Winterreise begegnet der Dichter dem Musiker in Gestalt des Leiermanns, einer erbärmlichen Existenz („barfuß auf dem Eise“ [I, 185[2]]), die unaufhörlich ihre Leier dreht[3], obwohl kein Mensch ihr zuhört, und dennoch: der Dichter erwägt nicht nur, diesen Drehleierspieler als musikalischen Partner zu gewinnen, sondern sich ihm anzuschließen (nicht: willst Du mit mir, sondern: „soll ich mit dir gehn?“ [I, 186]). Dieses rätselhafte Schlussstück im Liedzyklus wurde vielfältig gedeutet, dabei übersah man nicht selten, dass der Musikwerdungsprozess (und die damit zur Darstellung gebrachte existentielle Situation) nicht erst in diesem, sondern schon im vorletzten Gedicht Mut! thematisiert wird (bei Schubert ist es das drittletzte):

„[...] / Wenn mein Herz im Busen spricht, / Sing ich hell und munter.

Höre nicht, was es mir sagt, / Habe keine Ohren. / Fühle nicht, was es mir klagt, / Klagen ist für Toren.

Lustig in die Welt hinein / Gegen Wind und Wetter! / [...]“

(I, 185)

Beim Lesen der 1.Strophe könnte man meinen, das muntere Singen sei Herzenssprache, Ausdruck des Innern. Doch die 2.Strophe überrascht uns: das Herz spricht nicht hell und munter, sondern klagend, und das Ich, dessen Herz so spricht, hört es nicht oder will es nicht hören. Dieses Ich singt dagegen an, eben hell und munter, oder, wie es in der 3.Strophe heißt, lustig in die Welt hinein. Es gibt offensichtlich zwei Gesänge: einer drückt die innere Gefühlslage aus, während der andere strictu sensu nicht Ausdruck ist, sondern Manifestation eines Lebenswillens, in ihm repräsentiert sich der Überlebenskampf. Und dieser Gesang findet - man mag es zunächst nicht glauben - in der Musik des Leiermanns seine Ergänzung: auch er schafft keine Ausdrucksmusik, sagt nicht: ich fühle, sagt nur: ich bin. Doch sein Spiel steht für eine andere Strategie des Überlebens, kein Kampf, keine Übertönung („und er läßt es gehen / Alles, wie es will“ [I, 186]), im Leiern wird das Elend ausgehalten, wird das Leid ertragen; gespielt wird ohne Unterlass, unter allen Umständen: mit nackten Füßen und klammen Fingern, ohne materielle und menschliche Zuwendung. Das Leiern ist auf metaphorischer Ebene Synonym des Wanderns: das menschliche Ich überwindet sich, seine (mit den Konnotationen des Leierns: gleichförmige, unspektakuläre) Existenz fortzuführen.

In seiner Radikalität verweist dieser Text auf die Erfahrungswelten des 20.Jahrhunderts, als humane Grundsätze wie nie zuvor bedroht waren und sich dabei dennoch als resistent erwiesen. Ich schweife ab und denke an Adornos Verdikt (das er später selbst relativiert hat), dass nach Auschwitz kein Gedicht mehr möglich sei, und, dem widersprechend, an Berichte von Insassen in NS-Konzentrationslagern, die über den Sinn musischen Tuns unter bisweilen qualvollen Umständen Aufschluss geben. Manch einen Dichter oder Leiermann (beiderlei Geschlechts) hat die gewaltsam beendete „Wanderschaft“ in solche Lager geführt, wo er oder sie mit dem Dichten und Musizieren nicht aufgehört, wo das Leben sich in dieser Tätigkeit behauptet hat und den Nachgeborenen aufgetragen wurde, das Erbe (und verstünde man es auch als „ewige Leier“) nicht auszuschlagen. Mit solchen Assoziationen geraten wir auf gefährliches Gebiet, und die Semantik soll darauf nicht reduziert, lediglich - hinsichtlich einer großen Bandbreite möglicher Interpretationen - exemplifiziert werden: mögen sich in zukünftiger Rezeption noch ungeahnte Bedeutungen erschließen.

 

***

 

Resümieren wir die Musizierarten, die in den beiden letzten Liedern von Müllers Winterreise beschrieben werden: am Ende ist es ein stoisches Instrumentalspiel, im dem sich nicht menschliches Leid und Leiden, wohl aber die Art und Weise repräsentiert, wie solches ertragen wird. Zuvor ist es der Wanderer, dessen Herz zur Klage drängt, doch dieselbe wird nur angesprochen, aber nicht zu Gehör gebracht, formt sich nicht zum Klagelied. Singend kämpft der Wanderer gegen das innere Lamento an, bedient sich des Gesangs als Gegenausdruck. Widerspricht das nicht vehement konventionalisierten Meinungen zu romantischer Gefühlsästhetik, wie sie dem Musikdenken in simplifizierender Weise aufgezwungen wurden?

Musikalische Sujets sind in vergleichbarer Präsenz (sowie auf vergleichbarem literarischen Niveau) auch in anderen Liederzyklen anzutreffen. Wir stoßen u.a. auf die sogenannten Reiselieder, die im 1.Bändchen der Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten veröffentlicht wurden[4]. Mehr noch als in der Winterreise wird daselbst auf das Musizieren und Singen reflektiert: Einem Prager Musikanten zerspringen die Saiten seiner Fiedel, als er sein Abschiedslied singt, in einer offensichtlich herzzerreißenden Gemütslage (I, 88). Ein anderer Musikant (I, 87) singt in ähnlicher Situation gegen das Gefühl an, „bis ich (..) auf der Brust mich leicht gefühlt“. Wieder steht dem Ausdruck dessen Kompensation gegenüber.

Dies entspricht offensichtlich Müllers Musikverständnis, wie es uns in kritischen Andeutungen zum Schaffen Carl Maria von Webers überliefert ist. Dessen melodischer „Sentimentalität“ (im neutralen Sinne von Empfindsamkeit) - so heißt es in den Literarischen Abendunterhaltungen auf dem Lande - fehle ein Kontrast, und als Vorbild wird bezeichnenderweise kein Komponist, sondern ein Literat genannt: Jean Paul (IV, 376 f.). Auch in der Wortkunst spricht Müller von „Sentimentalität“ und stellt ihr das „Räsonnement“ gegenüber (IV, 363). Wir können es in seinen Liedern verifizieren: räsonierend - in einer für die zeitgenössische Lyrik auffälligen Weise - bringt der Dichter die „sentimentalen“, also gefühlsbetonten Elemente auf Distanz, indem er manches Poem mit einer Reflexion auf das Dichten, das Liedermachen enden lässt: „Heut hab ich dies Lied erdacht,/ Morgen wird es ausgelacht“ (I, 76) oder: „Dies Liedchen ist ein Abendreihn, [...]/ Und die es lesen bei Kerzenlicht,/ Die Leute verstehn das Liedchen nicht,/ Und ist doch kinderleicht“ (I, 79). In diesen Versen schlägt sich Müllers Bemühen um die einfache Form nieder[5]: der in Worte (und imaginäre Töne) gefasste Reigen bleibt - so orakelt der Dichter - trotz eingängiger Sprache unverstanden. Es ist, als löse sich das Bild vom Leiermann, dessen einfache Klangform kein Gehör findet, in diskursive Rede auf, eine Rede über des Autors eigene Dichtkunst.

Kontrast wird in Müllers Texten freilich nicht nur durch räsonierende Partien hervorgerufen, ist vielmehr auch innerhalb der Affektdarstellung vorhanden. Immer wieder fällt die Ambiguität der Liedaussage auf, meist ist es ein Widerspiel von Lust und Frust, positiver und negativer Gefühle: „Durch den Hain / Aus und ein / Schalle heut ein Reim allein: / Die geliebte Müllerin ist mein! / Mein! / Frühling, sind das alle deine Blümelein? / Sonne, hast du keinen hellern Schein? / Ach, so muß ich ganz allein, / Mit dem seligen Worte mein, / Unverstanden in der weiten Schöpfung sein!“ (I, 53). Die Natur verweigert sich den Liebesfreuden und dem Fest des menschlichen Egos; der Kontrast ist jedoch nicht nur wortinhaltlicher Art, so wirkt der depressiven Aussage die Vitalität künstlerischer Gestaltung (durch lebendige Metaphorik, spielerische Reimbildung etc.) entgegen. Müllers dichterische Ambiguität ist auf verschiedenen Ebenen interpretierbar; immer wieder stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Schein und Sein, d.h. auch von virtueller und realer Welt. Das lyrische Ich drückt nicht nur Gefühle und Gedanken aus, sondern es spielt mit solchen, es imaginiert sie, es erfindet Situationen, in denen so und so gedacht, so und so gefühlt werden könnte, imaginierte oder fiktionale Zustände, die sich auf eine Realitätsebene beziehen lassen. In den Reiseliedern mag die immer wieder beschworene Geliebte in dieser Weise interpretiert werden, als imaginäre Gestalt, vielleicht als Allegorie eines Zustands, der vom ruhelosen Wandern erlösen würde, aber doch nie erreicht wird. Das lyrische Ich selbst unterliegt der Vorstellungskraft: im Gedicht Hier und dort (siehe unten) verwandelt es sich gedanklich in ein Lied, das auf Papier festgehalten wird und auf postalischem Weg in die Hände der Geliebten gelangt. Das Lied wird zum symbolischen (und ästhetischen) Ort der Erfüllung, gewissermaßen aber auch der Ich-Auflösung: die Liebste „sänge und spielte nur mich“. Es folgt ein Schnitt, gleichsam die Wende zur Tragödie: jetzt verweist der Konjunktiv auf Frustration, und das lyrische Ich scheint mit einer Schöpfung zu hadern, die Liebende nicht zusammenzuführt. Es folgt der zweite Schnitt, mit dem die Ich-Perspektive völlig aufgegeben wird; im Verhältnis zur existentiellen Thematik der vorausgehenden Verse ist es eine komödiantische Wendung: ein Wanderer, der - vom Rhein kommend - den dortigen Wein entbehrt, habe dieses Lied gesungen. Es ist nicht nur der Kontrast von „Sentimentalität“ und „Räsonnement“; verschiedene Vorstellungs- und Wahrnehmungsebenen sind hier gegenübergestellt, in differenzierter Sprache kenntlich gemacht. Menschlicher Realität wird in der Summe solcher Widersprüche entsprochen.

 

Hier und dort

 

Mein Liebchen hat g'sagt:

Dein Sang mir behagt!

Ach, wenn ich doch selber

Ein Lied gleich wär,

Meinem Schätzchen zu Ehr!

 

Da wollt ich mich schreiben

Auf seidnes Papier,

Und wollte mich schicken

Per Post zu ihr.

Flugs tät sie erbrechen

Das Briefchen so fein,

Und schaute schnurgrade

Ins Herz mir hinein.

Und sähe und hörte,

Wie gut ich ihr bin,

Und wie ich ihr diene

Mit stetigem Sinn.

Und Liebchen tät sagen:

Du tust mir behagen!

Und sagte und sänge

Und spielte nur mich,

Und trüge im Mund und im Kopf und im Herzen

Mich ewiglich.

Hätt Gott mich gefragt,

Als die Welt er gemacht,

So hätt ich ein Liebchen,

Das wäre fein hier,

Und wär sie wo anders,

So wär ich bei ihr.

 

Dies Lied hat gesungen

Ein Wandrer vom Rhein.

Hier trinkt er das Wasser,

Dort trank er den Wein.

(I, 83 f.)

 

***

 

Müller wendet sich gegen gefühlsästhetische Vereinseitigung sowohl lyrischer als auch musikalischer Kunst im Allgemeinen wie gegen formsprengende Expressivität im Besonderen. In seinen Texten gelingt es ihm oft meisterhaft, Emotionen mit Hilfe rationaler, ludischer oder fiktionaler Elemente zu relativieren. Affektdarstellung wird jedoch vor allem durch künstlerische Formgebung eingedämmt: „Ich kann nicht mehr singen, mein Herz ist zu voll, / Weiß nicht, wie ich’s in Reime zwingen soll“ (I, 53), heißt es im Gedicht mit dem bezeichnenden Titel Pause aus Die schöne Müllerin. Die ausdrucksbedingte Auflösung der Form lässt Müller nicht zu; künstlerische Gestaltungskraft wird auch daran gemessen, inwieweit sie expressive Energien einzubinden vermag. Daran entzündet sich die Kritik an Carl Maria von Weber, hätten doch dessen Melodien „oft eine sentimentale Gewalt, die das Herz auflösen und zerreißen“ würde (IV, 376). Die Musik zur Wolfsschlucht (aus der Oper Freischütz) gehe über die Kunst hinaus und gerate dabei aus dem Gleichgewicht. Was dieses Gleichgewicht ausmacht, wird freilich nur angedeutet: der „reine und ruhige Kunstgenuß“ (ebd.) ist vielleicht zu weit entfernt von unserem ästhetischen Vokabular. Müller impliziert damit das kathartische Postulat, mit dem die Kunst in verschiedenen Epochen und in verschiedenen (durchaus nicht nur europäischen) Kulturen konfrontiert wurde. In der Umsetzung solcher Katharsis praktiziert er (und fordert indirekt vom Komponisten) die sensible Wahrnehmung seelischer Regungen, aber auch deren Eingliederung, deren transformative Integration, welche sich in künstlerischer Form ereignet und daselbst zur Darstellung gebracht wird. Musik, die nur als Sprache des Herzens fungieren sollte, wäre in Müllers Auffassung noch keine Kunst, bzw. als solche unzureichend.

Es mag schwerfallen, diese Gedanken in ihren historischen Kontext zu stellen. Das Romantische scheint - ganz im Sinne von Müllers Dialektik - durch Elemente einer epochal nicht eingrenzbaren Klassizität kontrastiert. Vielleicht aber basiert diese Einschätzung auf einem unzulänglichen Romantikverständnis, wie es allgemein leider üblich ist. Das romantische Lied als literarisch-musikalische Zwittergattung sollte generell unter kathartischen Gesichtspunkten, unter dem Aspekt der Affektbewältigung, nicht der -steigerung, betrachtet werden. Im Übrigen ist die polare Denkweise, bei der sich, was gemeinhin als romantisch gilt, mit Gegensätzlichem verknüpft, auch anderen Romantikern eigen; eine besonders ausgeprägte Form manifestiert sich bei E.T.A. Hoffmann, dessen fiktionale Empfindungen - gerade in der Darstellung von Musikerlebnissen - zwischen Sehnsucht und Ironie changieren und der in seinen musikdramaturgischen Überlegungen (vor allem zur Erneuerung der opera buffa) eine Brücke zwischen Phantasiewelt und Alltagsleben schlagen möchte[6]. Der Musik wird - wie bei Müller, wenn auch anders akzentuiert - ein Kontrast verordnet, der in zeitgenössischer Tonkunst unter den obwaltenden Bedingungen kaum realisiert werden kann, dafür aber in die Zukunft weist und gewisse Merkmale im musikalischen und musikdramatischen Schaffen der Moderne theoretisch antizipiert.

 

***

 

Müllers Gedichte verstehen sich als Lieder und stellen sich als solche dar. Uns interessieren besonders die musikpoetologischen Momente in der Poesie, wenn Gesang oder Instrumentalspiel im Liedtext explizit (auch metaphorisch) thematisiert werden. Das geschieht kaum in der Schilderung von Frustzuständen, wohl aber der Anstrengung, dieselben zu bewältigen, gegen sie anzusingen, vor allem jedoch in der offensichtlichen Schilderung von Lustzuständen, beim Feiern und Festen: beim Frühlingsfest, wenn man „mit Fiedeln und Schalmeien“ (I, 82) durch die Gassen zieht, oder bei der Rückkehr des Prager Musikanten, der mit vollem Beutel Hochzeit halten will und mit seinen Kollegen aufspielt: „Das gibt eine Musika! [..] Heilige Cäcilia!“ (I, 87). Musik ist Ausdruck von Fröhlichkeit im archaischen Sinn. Aber auch dieser Ausdruck ereignet sich nie, ohne dass er kontrastiert, eingerahmt, relativiert würde. Im zitierten Lied, das mit Fiedeln und Schalmeien den Frühling begrüßt, wird derselbe allegorisch als junger knabenhafter Gast dargestellt, den der Trubel schnell ermüdet. Er verlangt nach Ruhe, die Musik ist aus, die Feier zu Ende. Und die Rückkehr des Musikanten mit vollem Beutel, das Aufspielen zum „Hochzeitreigen“ (I, 87) gleicht wieder einer imaginären Szenerie, einem Wunschbild. Der Text stellt sich auf sublime Weise selbst in Frage.

Doch ihren stärksten Kontrast erfährt die Festesfreude im letzten Gedicht der Reiselieder: Schiff und Vogel (vollständig abgedruckt am Ende dieses Aufsatzes). Es ist ein kleines allegorisches Liederspiel (wie in einigen anderen Gedichten handelt es sich um ein szenisches Konzentrat, ein Minidrama[7]), mit den Protagonisten Schiff und Vogel. Das Schiff hat eine Festgesellschaft an Bord: Menschen, die den ganzen Tag tanzen, springen, spielen und klimpern. Das Vöglein wird eingeladen, sich auf diesem Schiff niederzulassen, doch es will nicht. Aus seiner Sicht besteht die Festgesellschaft aus Wesen, die „nicht ruhen und horchen“ (I, 92) mögen. Sie hören nicht auf sein Singen, das sich von den akustischen Ausdrucksformen der Menschen wesentlich unterscheidet und in dem sich sein Anderssein grundsätzlich manifestiert.

Der Vogelgesang erschallt überall, und doch wird sich „kein Schreiber und Drucker“ seiner bemächtigen. Er bleibt Naturlaut, wird nicht in Notenschrift übertragen, findet also nicht Eingang in menschliche Kultur, bleibt dieser verwehrt (im Gedicht Einsamkeit zwitschern, trillern und flöten die Vögel, „als ging’s in den Himmel hinein“ [I, 78], während der Wanderer einsam seiner Wege geht, ohne dass die freudvolle Naturmusik auf seine Stimmung Einfluss nähme). Die Festgesellschaft macht Lärm und betäubt sich daran, macht Musik, die offensichtlich von der entfremdeten Situation ihrer Urheber gekennzeichnet ist. Unentfremdete Klänge ereignen sich jenseits dieser Gesellschaft. Es gibt eine Idee von Musik, die sich der Selbstdarstellung des homo sapiens widersetzt. Dieser Idee stehen menschliche Wirklichkeiten gegenüber: die Wirklichkeit der alkoholisiert-klimpernden Festgemeinde auf der einen, die Wirklichkeit des Leiermanns in der Winterreise auf der anderen Seite (Schiff und Vogel und Der Leiermann weisen als Finalstücke zweier Liedzyklen deutliche Parallelen auf).

Dennoch: trotz scheinbar unauflösbarer Widersprüche stellt unser Autor dialektische Verbindungen her. Und wenn die Metapher unaufhörlichen Leierns uns postexistentialistische und modern-nihilistische Deutungen nahelegt, sollten wir gleichwohl nicht verkennen: Wilhelm Müllers kulturelle Leistung besteht gerade darin, dass er Idee und Wirklichkeit, dass er verschiedene Wirklichkeiten korrelativ aufeinander bezogen hat. Und künstlerisch, in bild- und gestaltungskräftiger Dichtung, wird diese kulturelle Kompetenz zur Geltung gebracht.

 

 

Schiff und Vogel

 

Die Flüsse rauschen in das Meer,

Vorüber an Burgen und Städten,

Die Winde blasen hinterher

Mit lustigen Trompeten.

 

Die Wolken ziehen hoch voran,

Wir Vöglein mitten drinnen,

Und alles, was fliegen und singen kann,

Nur nach, nur mit uns, nur von hinnen!

 

Ich grüße dich, Schifflein! Wohin, woher,

Mit dem flatternden goldenen Bande?

„Ich grüße dich, Vöglein! Ins weite Meer

Fahr ich hin aus dem engen Lande.

 

All meine Segel sind geschwellt,

Kein Berg ist mehr zu sehen:

Ich hab meine Sach auf den Wind gestellt,

Der Wind läßt mich nicht stehen.

 

Und willst du, Vöglein, mit hinaus,

Magst dich auf den Mastbaum stellen;

Denn voll zum Sinken ist mein Haus

Von glücklichen Gesellen.

 

Sie tanzen und springen den ganzen Tag,

Und klimpern und spielen und trinken,

Und wer nicht mehr tanzen und trinken mag,

Seiner Nachbarin muß er winken.“

 

Gesellen, die brauch ich und such ich nicht,

Lieb Schifflein, ich kann ja noch singen;

Dem Mastbaum wär ich ein böses Gewicht,

Lieb Schifflein, ich habe ja Schwingen.

 

Hoch über dem Segel, hoch über dem Mast,

Wer will mir die Lust verwehren?

Und hält deine wilde Gesellschaft Rast,

So sollst du mich singen hören.

 

Und wer nicht ruhen und horchen mag,

Gott gesegn‘ ihm die bessere Freude!

So schwing ich mich auf in den blauen Tag,

In die goldene Sonnenweide.

 

So sing ich meinen Jubelgesang

Hinaus in alle vier Winde,

Daß ihn mein und sein lebelang

Kein Schreiber und Drucker finde!

(I, 91 f.)




[1] Dazu siehe Ute Wollny-Bredemeyer, „Ich kann weder spielen noch singen“ - Wilhelm Müllers Beziehung zur Musik, in: Ute Bredemeyer / Christiane Lange (Hg.), Kunst kann die Zeit nicht formen (= Bericht der 1.internationalen Wilhelm-Müller-Konferenz, Berlin 1994), Berlin 1996, S.280-290.

[2] Wilhelm Müller, Werke - Tagebücher - Briefe, hg. v. Maria-Verena Leistner, Berlin 1994; Zitate aus dieser mehrbändigen Werkausgabe weisen wir im Haupttext nach (römische Zahl = Band, arabische Zahl = Seite).

[3] Drehleiern sind historische Instrumente. Viele Leser mögen in Versuchung geraten, sich einen Leierkastenmann vorzustellen, gemeint ist aber ein Drehleierspieler.

[4] Die Reiselieder entstanden ca. 1815-16, die Winterreise ca. 1821-23 (siehe Anmerkungen der Werkausgabe), letztere wurde vom Autor in das 2.Bändchen der Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten aufgenommen.

[5] Siehe dazu die kenntnisreichen Ausführungen von Heinz Wetzel, Das volle Herz im Zwang der Reime. Zur Form in der Lyrik Wilhelm Müllers, in: Bredemeyer / Lange, S.122-140.

[6] Siehe dazu Joachim Noller, Kleine Philosophie der musikalischen Moderne. Musik und Ästhetik im 20.Jahrhundert, St.Ingbert 2003, Kapitel II.1: Das romantische Dilemma, S.121-132; zu dem gesamten Themenkomplex siehe auch: ders., Seiner Leidenschaften Meister sein. Zur Reflexion des Gefühls im Musikdenken, Frankfurt a.M. 2014, Kap. IV: Gefühlvolle Romantik?, S. 55 ff.

[7] Wir assoziieren damit die sogenannten „Synthesen“ („Sintesi“) der italienischen Futuristen, lakonisch-groteske Minidramen, die aus einer Szene bestehen.

 

Version 2016