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© Joachim Noller 2008/2016

 

 

 

 

 

 

 

 

Joachim Noller

 

Du sollst Dir kein Bild machen

 

I. Unzeitgemäße Gedanken über ein „ästhetisches“ Gebot

 

 

 

Was wäre wenn.... Virtuelle Geschichte holt uns aus der Normativität des Faktischen, ändert dabei zwar nicht die Fakten selbst, eröffnet aber neue Denkmöglichkeiten. Was wäre, wenn sich unsere visuelle Ästhetik anders entwickelt hätte, wenn sich unsere Akkulturation heute auf der Basis anderer Darstellungsmodelle vollziehen würde?

 

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Aus aktuellem Anlass interessiert die islamische Kultur, interessiert und befremdet zugleich. Wir sehen, meinen zu sehen: Ornamente, Dekor, sprechen von Arabesken, mitunter erkennen wir Schriftzüge. Das okzidentale Bewusstsein ordnet alle Elemente einem „Rahmen“ (Beiwerk) zu, was ihm fehlt, ist das „Bild“, das Werk im emphatischen Sinn europäischer Kunst.

In christlichen Kirchen, vor allem den Traditionsbauten, werden wir mit solchen Bildern konfrontiert. Darunter sind viele, die eigentlich, nach christlichem Kodex, nicht sein dürften. Jede Kirche erkennt den im Alten Testament überlieferten Dekalog an, bekannt als die „Zehn Gebote“. Darunter findet sich ein Gebot, das ästhetische Grundbedingungen setzt (wir zitieren aus der Luther-Bibel von 1984):

„Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist: Bete sie nicht an und diene ihnen nicht! [...]“, so lesen wir im Buch Exodus, auch bekannt als 2.Mose Kapitel 20, Vers 4-5. „Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen“, oder wir es im Buch Deuteronomium bzw. 5.Mose 5, 8-9, heißt: „Du sollst dir kein Bildnis machen in irgendeiner Gestalt [... die Fortsetzung ist fast identisch]“.

Dieses Gebot ging als Bilderverbot in die Geschichte ein, es erinnert in besonderem Maße an unsere religiöse Herkunft im Judentum. Im Dekalog-Artikel des Wissenschaftlichen Bibellexikons (WiBiLex) [1], das die bisherige Forschung kompetent zusammenfasst, heißt es, der Begriff pæsæl „Bild“ bezeichne „eine Skulptur unterschiedlicher Materialien“. Das Bilderverbot verbietet nicht bildliche Darstellungen generell, sondern die Herstellung eines Kultbildes, und zwar Jahwes, da die Abbildung anderer Gottheiten schon durch das Fremdgötterverbot (das 1.Gebot:  “Ich bin der Herr, dein Gott [...] Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“, Exodus, 20, 2-3) ausgeschlossen wird. Jahwe ist nicht und durch nichts, d.h. in keiner Gestalt repräsentierbar, noch darf sich seine Verehrung substitutiv an solchen Gestalten festmachen. Das Bilderverbot richtet sich also sowohl gegen den Akt der Bilderverehrung (Idolatrie - Ikonolatrie - Ikonodulie[2]) als auch gegen den Akt des Abbildens (da wir das Urbild noch nicht kennen, d.h. erst durch Einlösung eschatologischer Zukunftsverheißungen kennenlernen, siehe 1.Johannes 3,2: „[...] werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist“).

Nachdem die frühchristliche Kirche dieses Verbot im Prinzip übernahm, haben es die in der Folgezeit entstehenden Staatskirchen mehrheitlich fallengelassen. Es würde hier zu weit führen, auf alle Gründe dieser Entwicklung einzugehen. Theologisch wird immer wieder die Besonderheit des Christus-Glaubens in Abgrenzung zum jüdischen Monotheismus herangezogen: Christus, der inkarnierte Gottessohn, scheint zumindest in seinen menschlichen Eigenschaften abbildbar.

In den Schriften der römisch-katholischen und evangelisch-lutherischen Kirche wird zwar verschiedentlich auf das Bilderverbot hingewiesen, doch in der katechetischen Kurzform der Zehn Gebote, also in der Form religiöser Unterweisung, wird dasselbe unterschlagen. Luther selbst war in seiner Zeit mit einer ikonoklastischen, bilderstürmerischen Bewegung konfrontiert, der zahlreiche Skulpturen und Gemälde in Kirchen zum Opfer fielen. Der Reformator hat sich den aus seiner Sicht destruktiven Tendenzen entgegengestellt; man kann sich vorstellen, dass er durch Hervorhebung des entsprechenden Gebots nicht zur Legitimation solcher Aktionen beitragen wollte. Während also die Bilderfrage in der lutherischen, aber auch in der römisch-katholischen Kirche eher verschwiegen wird, stellen sich die Orthodoxen diesem Problem auf bemerkenswerte Weise. Bemerkenswert ist die Sache schon dadurch, dass die orthodoxe Bilderverehrung, konkret: die Verehrung sogenannter Ikonen, dem alten Bilderverbot deutlich widerspricht. Im 8. und 9.Jahrhundert kam es deshalb im byzantinischen Raum zu einem Bilderstreit, in dessen Verlauf der Ikonenkult von oströmischem Kaisern vorübergehend verboten wurde. Anlässlich der offiziellen Wiederherstellung der Bilderverehrung führte Kaiserin Theodora 843 ein „Fest der Orthodoxie“ ein, das fortan alljährlich gefeiert wurde. Seither ist die Ikonolatrie, die Ikonenverehrung, aber mit dem Bilderstreit assoziiert, indem sie nicht mehr als Selbstverständlichkeit vollzogen, sondern vor und nach dem Vollzug apologetisch legitimiert wird. Selbst die liturgische Ikonenweihe ist mit solcher Apologetik verquickt. Dabei wird das Bilderverbot explizit angesprochen. Man argumentiert – wohlbemerkt inmitten der Weihehandlung - gegen die Her- und Aufstellung sogenannter Götzenbilder und für eine Bildlichkeit, die in der Selbstabbildung Gottes, wie sie in der Verleiblichung Christi manifest wurde, ihr Vorbild habe. Der Bilderstreit mit dem Sieg ikonolatrischer Positionen wird hier quasi rekapituliert.

Auch in der „Bibliothek der orthodoxen Literatur in deutscher Sprache“[3], die von der russisch-orthodoxen Gemeinde Leipzigs online zusammengestellt wurde, schlägt sich diese offensive Auseinandersetzung nieder. In einem Lexikon der Orthodoxie wird unter dem Stichwort „Ikonenverehrung“ herausgestellt, dass mit ikonischer Präsenz einerseits die Fleischwerdung Christi bezeugt würde, andererseits „ein Widerschein der Möglichkeit, die dem Menschen gegeben ist, zu seiner wahren Natur zu gelangen, zur engen Kommunion mit Gott“.

In der russisch-orthodoxen Katechese[4] wird das 2.Gebot, das Bilderverbot, nicht unterschlagen. Es lautet, in entsprechender Interpretation und deutscher Übersetzung: „Du sollst dir keine Götzen machen, Götzen nicht anbeten und ihnen nicht dienen“. Dem schließt sich eine recht ausführliche Erläuterung an: „Frage: Wie legt die christliche Lehre das zweite Gebot aus? Antwort: Es ist nicht erlaubt, sich einen Ersatz für den wahren Gott zu schaffen, sich also etwa einen Talisman zuzulegen, der vor Unheil schützen oder Glück bringen soll. Jeder Aberglaube ist ein Verstoß gegen das zweite Gebot. Frage: Ist das Verehren von Ikonen eine Sünde gegen das zweite Gebot? Antwort: Nein, weil ja nicht das Holz und die Farbe verehrt werden sollen, sondern die dargestellte Person. Die Ikonen sind geweiht und deshalb bezieht sich unsere Verehrung vor allem auf den, von dem die Weihe stammt, also auf Gott.“

Es fällt auf, in welcher Verteidigungshaltung sich die orthodoxe Kirche bis heute befindet. Dabei wird der Eindruck erweckt, als wäre das Bilderverbot gegen eine Fremdgötterverehrung gerichtet (der Götze anstelle Gottes), was dem Geist dieses Gebots, seiner Eigenständigkeit gegenüber dem 1.Gebot (siehe oben) freilich zuwiderläuft.

Eine ganz andere Haltung nimmt die armenische Kirche ein, die sich apostolisch und orthodox nennt, jedoch nach dem Konzil von Chalcedon 451 die darin beschlossene Lehre von der Doppelnatur Christi (Mensch und Gott) abgelehnt hat und fortan die vereinigte gottmenschliche Natur Christi postulierte (als Miaphysitismus bezeichnet). In dieser Kirche wirkte das Bilderverbot fort und wurde zumindest offiziell erst im Konzil von Sis 1204 außer Kraft gesetzt (die faktische Entwicklung der Bildsprache, z.B. das Auftreten der Christusfigur, müsste freilich gesondert untersucht werden). Aber auch danach findet sich ein hoher Anteil nichtfigürlicher Darstellung in armenischen Kirchen. Im Zentrum armenischer Ikonographie stehen Kreuzesdarstellungen[5], die an Kirchenwänden, vor allem aber auf freistehenden Kreuzsteinen, sogenannten Chatschkharen, zu finden sind. Dargestellt wird ein Kreuz meist mit reichem floralen und/oder geometrischen Beiwerk, aber überwiegend ohne den gekreuzigten Christus, kein Todes-, eher ein Lebenskreuz. Bisweilen wachsen aus dem Kreuz pflanzliche Motive und erweisen sich somit als anikonische Entsprechung sogenannter Green-man-Darstellungen[6] auf europäisch-mittelalterlichen Kapitellen (und anderswo), wo ähnliche Pflanzenmotive aus dem Mund eines Menschenkopfes zu wachsen scheinen. In beiden Fällen kommt das Leben aus Gott, im ersten jedoch versinnbildlicht durch das Kreuz (eine Art green cross), im zweiten durch einen Menschen. Andererseits ist das Kreuz auf den Chatschkharen keine (auch keine symbolische) Darstellung von Gott, eher von göttlicher Wirksamkeit (ansonsten fiele es, wie einige radikale Gruppen in der armenischen Religionsgeschichte argwöhnten, auch unter das Bilderverbot).

In der Literatur wird diese anikonische, unfigürliche Darstellungsart Armeniens meist mit großem Unverständnis behandelt. Nicht selten wird als Begründung der angebliche Monophysitismus in armenischer Theologie angeführt (in Abweichung zum tatsächlich anzutreffenden, aber nur schwer zu definierenden Miaphysitismus, siehe oben), als ob die armenische Kirche die Leiblichkeit Christi völlig abstreiten und seine physische Darstellung deshalb verbieten würde. Interessant ist, wie ein exilarmenischer Wissenschaftler, Vrej Nersessian, die anikonischen Eigenschaften armenischer Sakralkunst parteiisch (offensichtlich orthodoxer Ikonolatrie zugeneigt) ignoriert: Zwar hätten Sektierer in Armenien ikonoklastische Positionen vertreten, seien jedoch nicht repräsentativ gewesen für armenisch-orthodoxe Theologie und Lehre: „With the growth of Christianity in Armenia, icon veneration developed and became a natural expression of piety[7]. Antiidolatrisch scheint hier identisch mit ikonoklastisch in pejorativem Sinn. Bewusst oder unbewusst entspricht der Autor damit einer Tendenz in der europäischen Geschichtsschreibung. Antiidolatrische Haltungen werden nicht selten mit kulturfeindlich destruktiven Aktivitäten gleichgesetzt, werden als Puritanisierung, Entsinnlichung angesehen. Die alternative Sinnlichkeit wird dabei geflissentlich übersehen.

 

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Wohin würde uns eine antiidolatrische Kultur führen? Europäer mögen daran ethische Überlegungen knüpfen: Das Fehlen der menschlichen Figur würde demnach als dehumanisierend empfunden, wobei man bei diesem Urteil von einer humanistischen Tradition ausginge, die in altgriechischen Vorstellungen wurzelt. Das Bilder-Verbot, nicht nur das islamische, könnte als ästhetische Konsequenz intoleranter Geisteshaltung, repressiver Indoktrination gelten. In diesem Sinn geißelt es Bazon Brock als Ausdruck von Herrschaft, Machtgier, intellektueller Beschränktheit und diagnostiziert eine Störung sozialer Kommunikation durch Trennung der Einheit symbolischer, indexikalischer und ikonischer Zeichen, d.h. durch Verbannung letzterer[8].

Neben solcher Verurteilung - politisch-moralisch begründet, jedoch nur eingeschränkt verifizierbar (so sind auch figürliche Darstellungen sozialkritisch zu hinterfragen, schließt kein Bilderverbot ikonische Zeichen grundsätzlich aus) - empfähle sich die vergleichende Betrachtung antiidolatrischer Religionen. Es sind Schrift-Religionen. Das jüdische Bilder-Verbot wird auf Schrifttafeln präsentiert; ihre Glaubensgrundlagen entnehmen Mohammedaner dem Koran[9], Christen der Bibel, der „Schrift“, die als heilig bezeichnet wird. Doch nicht nur die Bildkritik, auch die konzedierte Bildlichkeit, ohne die keine Religion auskommt, ist hier auf Wort und Schrift bezogen. Die Zulassung figürlicher Darstellungen im frühen Christentum wird u.a. damit begründet, den Gläubigen, zumeist Analphabeten, würden auf diesem Wege die Geschichten der Bibel vermittelt. Als während der Reformation Bilderstürmer in die Kirchen eindringen, tun sie es vor dem Hintergrund einer schriftbetonten Theologie. Der Glaube entstehe durch das Wort, predigt Luther in Anlehnung an die paulinische Lehre, und dasselbe soll den Menschen in ihrer Sprache (durch Bibelübersetzung) verständlich gemacht werden. Das Bild als Informationsträger wird dem Wort untergeordnet. Es gibt Gemälde, die in vorreformatorischer Zeit entstanden sind und deren „katholische“ Partien (Heiligendarstellung etc.) nicht durch andere Bildinhalte, sondern durch schlichte Schriftaufzeichnung ersetzt werden.

Machen wir einen Sprung und treten im Geiste vor islamische Moscheen oder Medresen, ich denke an die überwältigenden Bauwerke von Samarkand oder von Buchara in Usbekistan. Die Wände sind geschmückt mit Ornamenten, die in Schriftzüge mit Koranversen übergehen. Viele Ornamente bestehen aus stilisierten Schriftzeichen, man könnte noch weiter gehen: jedes Ornament ist zumindest virtuell auf Schrift beziehbar. Das Bild wird hier wahrlich durch Schrift präfiguriert. Man bedenke, dass diese Schrift selbst aus einem Abstraktionsprozess resultiert, der in mehr oder weniger ikonischen Bildern seinen Ausgang nahm. In diesem Sinne scheint Schrift Bildliches zu sublimieren, auf eine andere Ebene zu führen.

In der jüngsten europäischen Kulturgeschichte wurde dieser Prozess zugespitzt: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, mehr noch seine epigonalen Anhänger sprachen vom Ende der Kunst, im 20.Jahrhundert wird in der Kunstszene diese (nicht enden wollende) Beendigung auf- und vorgeführt: der Palimpsest des Bildes, seine Überformung durch das Wort, seine Ersetzung in sogenannter Spruchkunst oder concept art (Konzepte, die nur noch imaginär bebildert werden). Werden wir hier mit einer säkularisierten Spätform des Bildersturms konfrontiert?

Die Geschichte endet nicht mit dem Sturm auf die Galerien noch mit dem Triumph der Schrift. Doch was kann es bedeuten: das Überschreiben der Bilder, das transitorische Hervortreten der Schrift? In José Saramagos Roman mit dem Titel Handbuch der Malerei und der Kalligraphie entfremdet sich ein Porträtmaler seiner Kunst: „Aber es wäre immer ein Bild gewesen, das man sich von jemandem macht, nie die Wahrheit“ [10]. Er beginnt zu schreiben und reflektiert darüber, was er sich davon verspricht: „Meine Arbeit wird sein zu unterscheiden, zu trennen, zu vergleichen, zu verstehen. Zu durchschauen. Genau das zu tun, was mir beim Malen nie gelang“[11]. Und er gibt zu, dass er über Gesehenes berichte, auch ohne zu wissen, was er gesehen habe: „ich habe es noch nicht in Erkenntnis umgesetzt“[12]. Mit dem Schreiben verfolgt er ein Erkenntnisziel, das er mit dem Malen nicht zu erreichen glaubt. Und doch ist es nur eine Passage seines Lebens, die in eine neue Phase des Bildens mündet und somit zu seiner eigenen Kunst zurückführt. Bildkritik, und sei sie noch so „stürmisch“, bewirkt keine Abschaffung, bestenfalls eine metamorphotische Erneuerung der von ihr angeprangerten Formen und Inhalte.

 

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Antiidolatrische Religionsvorschriften führen nie zur Bildlosigkeit, zu einer bilderlosen Kultur. Es entsteht eine andere Bildlichkeit, und die Frage erhebt sich, wodurch selbige charakterisiert ist oder charakterisiert sein kann. Wir wagen eine (Hypo)These: antiidolatrische Haltungen, sofern sie kulturell fruchtbar werden (!), begünstigen einen visuellen Minimalismus, der in nuancenreichen Varianten einzelner Muster oder patterns besteht. Denken wir an die zahlreichen Fassungen gleichartiger Kreuzsteine in Armenien, vor allem der „green-cross“-Form, wie oben beschrieben. Neben abstrakten, u.a. geometrischen Mustern gibt es zwar auch Abbilder tierischer und vor allem pflanzlicher Motive (stilisierte Akanthus-Blätter, Granatäpfel, Weintrauben und -ranken), doch partizipieren diese an der minimalistischen Struktur; d.h. durch Wiederholung oder Variation bilden auch solch abbildhafte Motive ein Muster, das sie formal und expressiv den abstrakten Mustern angleicht. Und in der Gesamtdarstellung ergibt sich ein urvitales, zum Leben drängendes Geflecht, das in seiner Sinnhaftigkeit physische und metaphysische Welten umfasst. Bei anthropomorpher Figürlichkeit (in der hellenistischen Tradition) ist die Polarität zwischen physischer und metaphysischer Referenz dagegen oft problembehaftet.

Als in der ost- und weströmischen Kirche Christusdarstellungen zugelassen wurden, berief man sich auf die partiale Menschlichkeit Christi, die menschliche neben der göttlichen Komponente, die einem Abbild quasi zur „Verfügung“ stünde. Dabei erhebt sich jedoch die Frage, wie bzw. ob der andere „Teil“, die göttliche Natur in solch naturalistischer Darstellung zum Ausdruck kommt. Begünstigt diese Darstellung letztlich nicht eine – in moderner Terminologie – dekonstruktivistische Ästhetik: eine Sinnlichkeit, der die Sinnebene abhanden kommt? Führt die ikonische Repräsentation des Gottessohnes nicht in weitem Spannungsbogen zu jenem Komplex an Fragen, die sich die philosophische Ästhetik unserer Tage stellt: gemeint ist das Problemfeld um die Begriffe Präsenz und Repräsentation? Gibt es nicht Repräsentationsformen, die die Präsenz des scheinbar Repräsentierten geradezu ausschließen? Und in welchen sinnlichen Formen lässt sich Sinnhaftigkeit vergegenwärtigen, anders gesagt: ist physische Präsenz nicht an das Vorhandensein metaphysischer Elemente gebunden (wobei Metaphysik, wie uns Giorgio de Chirico und Alberto Savinio gelehrt haben, auch Innerweltliches, Immanentes miteinbezöge)? Geht dem naturalistischen Abbild, der scheinbar vollkommenen Repräsentation, nicht „Präsenz“ verloren, jener Seinscharakter, den Martin Heidegger oft angesprochen, leider auch zerredet hat? Müssen wir nicht - bildlich gesprochen – auf die Darstellung des Gekreuzigten verzichten (wie uns das Beispiel von Armeniens Chatschkharen lehrt), um der vielfältigen, übrigens nicht nur christlichen Bedeutung des Kreuzes wieder bewusst zu werden?

 

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Bilderstreit ist ein Streit darüber, wie Wirklichkeit auf verschiedenen Ebenen dargestellt werden soll, und kann nur gelöst werden über eine Differenzierung des mimetischen Konzepts. Das Abbild setzt die Kenntnis des Abzubildendenden, die Imitatio die Kenntnis des zu Imitierenden voraus. Wird nicht solche Kenntnis oft fingiert? Die imitatio dei ist – in theo-logischer Konsequenz – nicht möglich. Interessant ist wiederum, wie die orthodoxen Kirchen dieser Logik begegnen. Die Ikone wird „nicht als das Produkt der schöpferischen Phantasie eines menschlichen Künstlers, d.h. überhaupt nicht als Menschenwerk verstanden, vielmehr als Erscheinung des himmlischen Urbildes selbst“, als „Selbstabbildung, Selbstabdruck der himmlischen Urbilder“[13]. Man bezieht sich auf den angeblichen Selbstabdruck Christi im Schweißtuch der Veronika (deren Name u.a. von vera, lat. wahr, und eikon, griech. Bild, abgeleitet wird). Damit leugnet die Orthodoxie den Repräsentationsakt und behauptet epiphanische Präsenz. Hier wird die Dialektik von Repräsentation und Präsenz, der wir in menschlicher Realität nicht entkommen, mystifizierend außer Kraft gesetzt.

Wie aber bringt man das Unbekannte zum Ausdruck, ohne Bekanntheit zu simulieren. Künstler der klassischen Moderne haben sich mit dieser Frage auseinandergesetzt. Für Willi Baumeister war Malerei in erster Linie „die Kunst des Sichtbarmachens von etwas, das durch sie erst sichtbar wird, und vordem nicht vorhanden war, dem Unbekannten angehörte. [..] Bei allen gegenständlichen und ungegegenständlichen Werken, wie auch bei Ornamenten und Schrift, ist es ein Verborgenes, was der Beschauer mit aufnehmen soll“. Dennoch eigne sich die gegenständliche und die ungegenständliche Malart nicht im selben Maße, wenn es darum geht, das Unbekannte auszudrücken. In den Farben und Formen seien „elementare Kräfte enthalten, stärkere Urkräfte als in den dargestellten Nachbildungen. [..] das gegenständlich Dargestellte ist eine Maskierung der Urkräfte“[14]. Auch enthalte „Gegenständliches Bestimmbarkeit auf seine begrenzte Art, während Abstraktes nicht bestimmbar eng“ bleibe[15]. Schließlich schützt uns die ungegenständliche Malweise vor dem Schein falscher Vertrautheit: „Dadurch, daß sich das Unbekanntgewesene am reinsten im Formhaften manifestiert, gibt der Künstler sein Geheimnis auch als Bekanntgewordenes nicht preis“[16], anders gesagt: das Unbekannte verliert auch in künstlerischer Darstellung nicht seine Haupteigenschaft. Die abstrakte, Baumeister bevorzugt wie Kandinsky den Begriff: konkrete Malweise erweist sich hier als moderne (selbstverständlich verschiedenen Traditionen verpflichtete) Manifestation antiidolatrischen Denkens. Es werden Welten symbolisiert, die dem Augenschein nicht zur Verfügung stehen, die nicht anthropozentrisch sind, die aber dennoch existieren und zwar nicht „jenseits“ menschlicher Bedürfnisse, sondern auf diese bezogen. Mit antiidolatrischer Darstellung werden andere Welten nicht bloß assimiliert, werden Grenzen wahrlich überschritten. Und dennoch sind wir mit den Abstraktionen des 20.Jahrhunderts nicht am Ziel unserer Hoffnungen angelangt, ist doch ihre Ikonographie zunehmend der Gefahr einer Selbstreproduktion ausgesetzt, wo das Bild nur noch klägliches Abbild seines Vorgängers ist, wo Bilderverehrung als Farce betrieben wird. Heute schützt uns die ungegenständliche Malweise nicht mehr vor dem Schein falscher Vertrautheit.

Im letzten großen Musiktheaterwerk von Luigi Nono (Prometeo, uraufgeführt 1984) wurde die szenische Darstellung auf ein Minimum reduziert. Massimo Cacciari, Librettist der ungewöhnlichen Oper, sprach vom Skandalon des „Höre Israel“, das sich „der eidetisch-haptischen Logik eines Thomas von Acquin, den Göttern des Abendlandes, die sich zeigen, oder dem Gott inkarnierter Offenbarung“ entgegenstelle. Mit diesem antiidolatrischen Skandalon eröffne sich das, was möglich ist, eine potentielle Realität, werde eine Dimension denkbar, „in der die Wirklichkeit nicht mehr auf das Simulakrum reduzierbar ist“[17]. Möglichkeiten abzubilden, hieße: sie als bekannt vorauszusetzen. Es wäre Reproduktion und nicht der Vorschein potentieller Welten.

Prometeo markiert eine Pause, freilich nicht das Ende jener Bilderflut, die in unseren Tagen oft beklagt wird. Ist diese Flut der Abbilder wirklich erst mit dem Aufkommen elektronischer Massenmedien entstanden? Oder gründet sie nicht schon in der als prähistorisch bezeichneten Vorstellung, durch magisch verstandene Abbilder das Dargestellte zu beherrschen und zu bewältigen? Das Bilddenken des Menschen wäre demnach - vor jeder religiösen Orientierung - in archetypischen Strukturen verankert. Was passiert, wenn der Mensch diesen Anker lichtet?

 

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Was wäre, wenn... Eine andere, nicht nur auf den visuellen Aspekt beschränkte Kultur scheint auf[18]. Es gehört zur Freiheit menschlichen Geistes, die Möglichkeiten solcher Alterität auszuloten.

 

 

Version 2016




[1] Matthias Köckert, Art. Dekalog / Zehn Gebote, in: WiBiLex 2012, 1.8.1., www.wibilex.de, siehe auch Michaela Bauks, Art. Bilderverbot (2011), ebenda.

[2] Die Begrifflichkeiten werden z.T. synonym, z.T. mit deutlichen Bedeutungsverschiebungen verwandt, Idolatrie ist vergleichsweise pejorativ, Ikonolatrie und Ikonodulie sind vergleichsweise neutral konnotiert.

[4] ebenda, Internet-Version von: Orthodoxe Katechese, hg.v. Archimandrit Peterfalvi, München 1975.

[5] siehe auch Erich Lehner: Die Baukunst Armeniens und das Kreuz, in: E.Lehner und Artem Ohandjanian (Hgg.): Die Baukunst Armeniens. Christliche Kultur an der Schwelle des Abendlandes, Wien (Verlag des Instituts für vergleichende Architekturforschung) 2004, S.35-44.

[6] siehe z.B. William Anderson, Green man. The archetype of our oneness with the earth, Fakenham (Compassbooks) 1998, mit Photographien von Clive Hicks (spiritualistische Tendenzen im Text mögen auf Widerspruch stoßen).

[7] Vrej Nersessian, Treasures from the ark. 1700 years of armenian christian art, London (The British Library) 2001, S.83.

[8] Bazon Brock: Bilderverbote von Mose über Mohammed bis zu Malewitsch und Rothko, in: Ornament und Abstraktion. Kunst der Kulturen, Moderne und Gegenwart im Dialog [Ausstellungskatalog der Fondation Beyeler], hg.v. Markus Brüderlin, Riehen/ Basel (Fondation Beyeler/ DuMont) 2001, S.77-80.

[9] Inwiefern ein Bilderverbot aus dem Koran abgeleitet werden kann, sei hier dahingestellt.

[10] José Saramago, Handbuch der Malerei und der Kalligraphie, Reinbek bei Hamburg (Rowohlt) 1990, S.86.

[11] ebenda, S.27.

[12] ebenda. S.33.

[13] Ernst Benz, Geist und Leben der Ostkirche, Hamburg (Rowohlt) 1957, S.10 f.

[14] Willi Baumeister, Das Unbekannte in der Kunst, Köln (DuMont) ²1960, S.25 f.

[15] ebenda, S.208.

[16] ebenda, S.186.

[17] Massimo Cacciari in: Verso Prometeo [Programmheft der Uraufführung] , hg.v. M. Cacciari, Venezia (La Biennale di Venezia) 1984, S.25-30.

[18] Bei der Überarbeitung der „Ars-mimetica“-Essays anno 2016 fiel dem Autor ins Auge, dass - paradoxerweise - von allen Texten nur die beiden zur Bilderfrage mit Fotos illustriert sind!