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© Joachim Noller 2009/ 2016

 

 

Joachim Noller

 

Légende comme réalité.

Mimetische Aspekte im Filmwerk Jean-Luc Godards

 

Für Godard[1]

 

Man stelle sich vor, ein Filmkritiker (pardon:) mittlerer Güte oder der Redakteur einer Fernsehzeitschrift stünde vor der Aufgabe, Jean-Luc Godards Film Notre musique (2003) in aller Kürze zu beschreiben, er/sie müsste die drei Teile des Films mit wenigen Worten charakterisieren. Da ist der erste Teil, die sogenannte Hölle, mit den vielen Kriegsbildern, darauf folgt der zweite Teil, das Purgatorium, mit den Szenen aus Sarajevo, mit vielen Gesprächen und Reden, in deren Zentrum ein Vortrag Godards steht („über das Bildliche“ titulierbar). Da ist zum Schluss das Paradies, in dem eine Protagonistin des vorangegangenen Purgatoriums sich nach ihrem Tod wiederfindet, eine militärisch (wenn auch recht locker, auf spielerische Art) bewachte Naturlandschaft. Nun also stellen wir uns eine Beschreibung vor, die journalistischen Konventionen entspräche (die Anspielung auf Dantes Göttliche Komödie träte dabei in den Hintergrund): die Hölle, also vor allem jenes Kriegsszenarium könnte mit Begriffen wie wirklichkeitsnah, realistisch, harte Wirklichkeit bedacht werden, während das Purgatorium mit seinen Gesprächen und Reden als theoretisch-philosophischer Teil gelten mag, eben nicht Wirklichkeit darstellend, sondern eher intellektuelle Gedanken über die Wirklichkeit, dieselbe reflektierend oder auch - wenn man es kritisch betrachten möchte – konterkarierend; zum Schluss das Paradies, bei dem garantiert zahlreichen Kommentatoren der Begriff poetisch einfallen mag, poetisch im Sinne von welt- und eben auch wirklichkeitsentrückt. Bei modernen, also im 20.Jahrhundert entwickelten Erklärungsstrategien ließe sich die Allerweltsvokabel des Poetischen durch den intellektuelleren Begriff des Utopischen ersetzen: wer Orte jenseits harter Wirklichkeit darstellt, befindet sich am Nicht-Ort des Utopischen. Godards Paradies bereichert die Ikonographie utopischer Vorstellungen.

Man könnte also sagen: im Auge und Kopf unseres Betrachters sowie in nachfolgender Deutung vollzieht sich ein mimetischer Prozess, wonach der Film mit der Wirklichkeit beginnt und sich von ihr entfernt bis zu jener andeutungsweisen „Realie“ amerikanischer Marines, die das Paradies bewachen und die als - man verzeihe uns den Superlativ - „realistischstes“ Moment der Szenerie gelten könnten. Das ist ein Interpretationsweg, der mimetischen Konventionen nachzuspüren versucht. Als wirklichkeitsnah wird das bezeichnet, was einem gewissen Bild von Wirklichkeit entspricht; und diese Rezeptionshaltung ist nicht auf das Kino beschränkt: sogar in der Musik, der man per se eine viel höhere Abstraktion als dem Kino zugesteht, könnten wir bei aller Differenz vergleichbaren Interpretationsmustern begegnen. Enthält der musikalische Werktitel Begriffe wie Hiroshima oder Auschwitz, spricht man von einem hohen Grad an Realismus; der Titel Liebeslied würde dagegen als poetisch empfunden, mit der Konnotation von Wirklichkeitsferne, als ob Liebeslieder nie Teil der Wirklichkeit gewesen wären. Offensichtlich gibt es Übereinstimmungen oder zumindest Verwandtschaften in der semantischen Rezeption, in der mimetischen Zuordnung von Klängen und Bildern.

 

Godard stellt die Beziehung von Bild und Wirklichkeit zur Diskussion, und wir möchten uns an dieser Diskussion beteiligen. Was referieren die Kriegsbilder im Höllenteil von Notre musique? Die konventionelle Antwort unserer Tage würde in etwa lauten: solche Bilder rütteln auf, begünstigen die Erkenntnis des Bösen und eine daraus folgende Antihaltung. In dem Filmessay The old place[2] (mit dem Untertitel: „Small notes regarding the arts at fall of 20th century“) wird der Sinn solcher Bilder jedoch hinterfragt: Godard und Anne-Marie Miéville verweisen auf die Photographien William Haglunds, der die Gräuel des Jugoslawien-Kriegs festhielt und damit Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeugen konnte, gleichwohl sei die Vergrößerung und Ausstellung dieser Photos - „comme de la peinture, sur de grandes toiles“[3] - damit nicht legitimiert. Hier wird also die Ästhetisierung durch bloße Exposition an den Pranger gestellt. Doch tut Godard seinerseits nicht eben solches? Werden derartige Bilder nicht im cineastisch-künstlerischen Kontext mehrerer Filme exponiert, wie Malerei, auf großer Leinwand? Und dennoch unterscheidet sich seine Kunst von moderner Abschreckungs-Ästhetik, geht er auf Distanz zum appellativen Charakter, zur klaren Botschaft, zu den Konventionen einer politischen Ästhetik, wie sie sich im 20.Jahrhundert herausgebildet haben. Godard zeigt das photographische Abbild, und stellt seine Beweiskraft, seine Kompetenz gleichzeitig infrage. Infrage gestellt wird jegliche Bildlichkeit, jegliche Bebilderung (dafür steht die Aufforderung in Notre musique, zur Aktivierung der Vorstellungskraft die Augen zu schließen), abgelehnt wird die vermeintlich sichere Referenz (die Behauptung, so sei die Wirklichkeit) einer an Oberflächen orientierten Darstellungsweise. Dabei wendet Godard Ideen sogenannter Abstraktion auf die Filmkunst an, wie sie in der bildenden Kunst schon als klassisch bezeichnet, in ihrem Sinn jedoch bis heute, u.a. als amimetisch, missverstanden werden. Abstraktion meint nicht die Abkehr von der Wirklichkeit, sondern die Hervorkehrung darstellerisch bisher benachteiligter Realitätsschichten. Es ist zu beobachten, dass Godard dabei vor allem auf spirituelle Bedeutungsebenen abhebt, anders gesagt, dass er – quasi in Durchleuchtung äußerlicher Vorgänge - geistige Verfassungen und damit gewissermaßen Innenwelten darstellen möchte. In dem inszenierten Vortrag, der im Zentrum des in Sarajevo spielenden Purgatoriums von Notre musique steht, wird eine besondere Kunst-Geschichte erzählt, nach der sich in der Madonna von Cambrai, auch Notre-Dame de Grâce genannt, einer Ikone von unsicherer Herkunft[4], tatsächlich die visuelle Gestalt der Mutter Maria darstelle. Eingeblendet wird übrigens nicht die berühmte Cambrai-Madonna, die in gutem Zustand erhalten ist, sondern eine Madonnendarstellung, deren Farben sich schon in Auflösung befinden, so dass die Gesichtszüge kaum zu erkennen sind. Die Abstraktion von menschlicher Figur und die mögliche Hinwendung zum Sakralen scheint in diesem Gemälde veranschaulicht. Godards Stimme kommentiert: „keine Bewegung, keine Tiefe, keine Illusion, das Heilige“.

 

Was also soll, was kann dargestellt werden? Der Essayfilm The old place (dessen Teile als „Übungen künstlerischen Denkens“ bezeichnet werden) stellt diese Frage zur Diskussion. Beginnen wir mit dem Schluss. Erzählt wird die malaysische Legende von A Bao A Qu, wie sie uns Jorge Luis Borges in seinem Buch der imaginären Wesen überliefert hat. Am Ende ihres Filmes weisen Godard/Miéville darauf hin, dass diese Legende all das resümiert, was im Film vorher gesagt wurde:

„Um die schönste Landschaft der Welt betrachten zu können, muß man zum obersten Stock des Siegesturmes in Chitor hin­aufsteigen. Dort gibt es eine kreisrunde Terrasse, von der aus man den gesamten Horizont überblicken kann. Eine Wendel­treppe führt zu ihr hinauf, doch nur diejenigen haben den Mut, sie zu besteigen, die nicht an die folgende Geschichte glauben: Auf der Treppe des Siegesturmes lebt seit Anfang der Zeiten A Bao A Qu, der für alle Werte der menschlichen Seele emp­fänglich ist. Im Zustand der Lethargie lebt er auf der ersten Stufe und erfreut sich bewußten Lebens erst dann, wenn je­mand die Treppe hinaufsteigt. Die Ausstrahlung des nahenden Menschen flößt ihm Leben ein, und ein inneres Licht geht in ihm auf. Zur gleichen Zeit beginnen sein Körper und seine fast durchscheinende Haut sich zu bewegen. Wenn jemand die Treppe hinaufsteigt, heftet sich der A Bao A Qu gleichsam an die Absätze des Besuchers und steigt mit ihm aufwärts, wobei er sich am Rand der von den Füßen verschiedener Pilgergenera­tionen glattgetretenen und abgenutzten Stufen hält. Auf jeder neuen Stufe wird seine Farbe kräftiger, seine Gestalt vollkom­mener, und das Licht, das er ausstrahlt, wird immer leuchten­der. Ein Beweis für seine Feinfühligkeit ist die Tatsache, daß er nur dann auf der letzten Stufe seine vollkommene Gestalt er­reicht, wenn der Hinaufsteigende ein geistig entwickeltes We­sen ist. Ist dies nicht der Fall, bleibt der A Bao A Qu vor dem Erreichen des Ziels wie gelähmt liegen, sein Körper ist unfertig, seine Farbe unbestimmt und sein Licht schwankend. Der A Bao A Qu leidet, wenn er sich nicht gänzlich formen kann, und seine Klage ist ein kaum vernehmbares Geräusch, ähnlich dem Kni­stern von Seide. Wenn aber der Mann oder die Frau, die ihn beleben, ganz rein sind, kann der A Bao A Qu die letzte Treppenstufe erreichen, ist dann vollkommen geformt und strahlt ein lebendiges blaues Licht aus. Seine Rückkehr zum Leben ist sehr kurz, denn wenn der Pilger wieder hinabsteigt,

rollt und stürzt der A Bao A Qu hinunter bis zur ersten Stufe, wo er, schon wieder ausgelöscht und einer Folie mit undeutli­chen Umrissen gleich, des nächsten Besuchers harrt. Es ist nur dann möglich, ihn deutlich zu sehen, wenn er auf der Mitte der Treppe angekommen ist, wo seine Körperauswüchse, die ihm, wie Ärmchen, beim Klimmen helfen, klar umrissen sind. Man­che sagen, daß er mit seinem ganzen Körper sehe, und daß er in der Berührung an die Haut eines Pfirsichs erinnere.

Im Lauf der Jahrhunderte hat der A Bao A Qu nur einmal die Vollendung erreicht.

Der Hauptmann Burton verzeichnet die Legende des A Bao A Qu in einer der Anmerkungen zu seiner Übersetzung von Tausend und eine Nacht.“ [5]

 

A Bao A Qu ist ein „für alle Werte der menschlichen Seele“ empfängliches Wesen. Seine vollkommene Gestalt erreicht es, „wenn der Hinaufsteigende ein geistig entwickeltes We­sen ist“, wenn er oder sie „ganz rein“ ist. Godards Filmessay handelt von der Kunst; und A Bao A Qu wird entsprechend kontextualisiert, steht hier also für diese Kunst, repräsentiert sie in mythischer Erzählung, während das Hinaufsteigen des Menschen einen kathartischen Prozess symbolisiert. In traditioneller Sicht kann Katharsis durch Kunst bewirkt oder befördert werden, durch entsprechend ausgelöste psychisch-mentale Prozesse, mittels Furcht und Mitleid in aristotelischer Sicht (die griechischen Originalbegriffe mögen anders konnotiert sein), mittels Erkenntnis in post- (nicht unbedingt anti-) aristotelischer, moderner Denkweise. A Bao A Qu's Funktion im Rahmen der Erzählung besteht nun darin, nicht Katharsis zu bewirken, sondern sie zu bezeugen, und das geschieht, indem dieses wunderliche Wesen die Entwicklungsstufe einzelner Menschen mittels seiner lumineszierenden Gestalt (und damit befinden wir uns auch sprachlich auf genuin ästhetischem Gebiet) zur Darstellung, zum Ausdruck bringt. Kunst wäre demnach ein Indikator, kein Katalysator.

Die Spiritualität des Menschen wird nicht an spiritualistischen Ideen festgemacht, sondern an der Potenz menschlicher Wahrnehmung. Godard/Miéville benutzen die Metapher von den Sternen und ihren Konstellationen (Stern-Bildern), beziehen unsere alltägliche Wirklichkeit auf die Ordnung des Weltalls und rufen dazu auf, sowohl einfache Dinge wahrzunehmen als auch die Art, wie sie als Bild (ideell aufgeladen) zusammen in Erscheinung treten. Zunächst also wird eine Hinwendung zu den Dingen eingefordert und damit einem objektivistischen Postulat der klassischen Moderne entsprochen. In der Szene bzw. Übung mit dem Titel Déception et magie zitieren die Autoren Paul Valéry, einen Passus aus den Cahiers, dessen Übersetzung wir im Folgenden wiedergeben:

„Es gibt einen Zeitpunkt, zu dem das Licht sich anschickt, die Dinge anzugehen, daß sie stammelnd ihre Formen aufsagen, dann der Reihe nach ihre Namen, beginnend mit dem Namen »etwas«, was ja der Beginn ist. Zunächst ist überhaupt nur ein Etwas da; dann sind es Dinge. Und das ist genau wie in der Genesis[6]. [Alles verläuft so, wie es im vielgenannten Kapitel I beschrieben ist. Teilung des Homogenen, des Nichts oder des Chaos ad libitum.“] Es gibt eine kleine Kindheit der Figur der Welt an einem Tag, für einen gegebenen Ort“. [7]

 

Godard/Miéville wollen nicht nur das Ding, sondern auch dessen Ursprünglichkeit erfassen. In der Bildsequenz des Kapitels bzw. der Übung Destin de choses werden alltägliche, gewöhnliche Dinge gezeigt mit der Aufforderung, sie wie Museumswerke zu behandeln. Es scheint auf eine Verklärung des Gewöhnlichen abzuzielen, wie sie von Künstlern und Kunsttheoretikern des letzten Jahrhunderts intendiert wurde, und dennoch ist die Ästhetik Godardscher Filme darin nicht erschöpft, ist damit nur ein Teilaspekt charakterisiert. Wir befinden uns in einem spätmodernen Szenario, werden einer Flut an Bildern ausgesetzt, werden in ein Labyrinth von Bildern, von Klängen und Texten (geschriebenen und gesprochenen) hineingeführt. Es ist eine Collage, die sich vorwiegend aus präexistenten Materialien zusammensetzt; Filmszenen, Gemälde oder philosophisch-literarische Texte werden herbeizitiert. Demnach kann Ursprünglichkeit, Einfachheit etc. kaum in den Darstellungsmitteln verifiziert werden, Ursprünglichkeit ist das Telos, die Zielvorstellung, die hie und da benannt wird, manchmal auch in einem Bild aufscheint. Da gibt es unter der Überschrift Enfance de l'art eine fast naive Szene: ein Mädchen hantiert mit seinem Farbenkasten und malt ein Bild, dazu erklingt Beethovens Pastorale, man hört die Stimme des Mädchens (und hier endet die Naivität): „Mama, was sind das: moderne Menschen?“. Und zu dem Schlagwort Origine des images sehen wir eine Leinwand, die von einer (im dunklen Hintergrund fast verborgenen) mechanischen Apparatur in Bewegung versetzt wird. Es ist eine Szene abstrakten Theaters, ein in Bewegung geratenes weißes Quadrat, oder aber – autoreflexiv auf die Kunstform Kino bezogen - eine agierende, aktivierte Projektionsfläche. Dabei kommt ein elementarer Konstruktivismus zum Ausdruck, der durchaus als Fortsetzung bildnerischer und szenischer Experimente des frühen 20.Jahrhunderts interpretiert werden kann. Godard ist auch hier ein spätmoderner Künstler, der in einem aufrechten Manierismus verschiedene Erfahrungen zusammenführt. Seine letzten Filme behaupten eine Gesamtkunstästhetik, die an Traditionen synthetisch-pankünstlerischer Bühnenkunst anknüpft (Kandinsky, Schlemmer, Meyerhold u.a.). Gleichwohl mag verwundern, wie ein Filmemacher um 2000 immer noch dafür kämpfen muss, sein Genre gegen den gesellschaftlichen Druck illusionistischer Erwartungen als Kunstform zu etablieren. Die künstlerische Emanzipation des Films ist noch nicht abgeschlossen.

 

Das Ziel der Ursprünglichkeit scheint zwangsweise über den labyrinthischen Weg unzähliger Eindrücke und Bilder, aber eben auch durch deren Abstraktion erreichbar. Zitiert wird in The old place der letzte Satz aus Henri Bergsons Abhandlung Materie und Gedächtnis: „Der Geist entnimmt der Materie die Wahrnehmungen, aus denen er seine Nahrung zieht, und gibt sie ihr als Bewegung zurück, der er den Stempel seiner Freiheit aufgedrückt hat“[8]: ein wahrhaft geistreicher Versuch, das Verhältnis zur Außenwelt zu umschreiben, deren Wahrnehmung nicht im Abbild endet, sondern in einer Reaktion des wahrnehmenden Geistes, in einer Reaktion, die als Bewegung bezeichnet wird und die somit auch hier auf Elementares verweist. Zu Bergsons Text wird ein Gemälde gezeigt mit gesichtslosen Menschen, zuvor sehen wir Menschen, offensichtlich blinde, die Skulpturen mit ihren Händen abtasten. In diesen bildlichen Beispielen ist die Wahrnehmung von Welt quasi gefiltert, zum einen reduziert auf das haptische Sinnesorgan, zum andern reduziert in der darstellerischen Wiedergabe, durch depersonalisierende Stilisierung. Der augenscheinliche Eindruck von Außenwelten wird vom menschlichen Geist transformiert und dabei auf einzelne Elemente reduziert. Wir sehen nicht die Wirklichkeit, wir sehen etwas von dem, woraus sie besteht. Kunst stellt – in mimetischer Hinsicht – einige Ingredienzen sogenannter Wirklichkeit dar, alles andere wäre in mehrfacher Hinsicht illusionär, müsste zur Phänomenologie bloßer Scheinhaftigkeit gezählt werden.

Wieder steht Godard in einer protomodernen Tradition, die er fortführt, aber auch verändert. Es war nicht nur Bertolt Brecht, der in einer vielfach als nicht-aristotelisch deklarierten Dramaturgie – mit dem Ziel, Wirklichkeiten rational-analytisch zu durchdringen - die Trennung dramatischer Elemente postulierte. Auch Godard trennt Bild, Ton und Wort, unterscheidet bei letzterem zwischen visualisiertem Dialog, Off-Stimme und geschriebenem Text, wobei die Auflösung des naturalistischen Kontinuums auf die Spitze getrieben wird: In einer Szene des Films Passion (1982) treffen sich Arbeiter, vor allem Frauen, diskutieren ihre Positionen und gewerkschaftlichen Vorhaben und tauschen politische Parolen aus (auf der DVD ist das Kapitel mit „réunion syndicale“ überschrieben). Bisweilen sind die Sprecherinnen sichtbar, bisweilen kommen die Stimmen aus dem Off, manchmal sind – in außerordentlicher Verfremdung - die Lippenbewegungen der gezeigten Person nicht mit der zu Gehör gebrachten Rede identisch. Es ist die wahrhaft elementare Trennung einer gehörten von einer gesehenen Rede, eine Trennung, die auf der Live-Bühne so nicht möglich wäre. Doch gerade in der beschriebenen Szene wirkt der analytischen Tendenz ein synthetisches, ein verbindendes Moment entgegen; und das ist wohlbemerkt nicht in den politischen Aussagen verifizierbar, welche äußerst unvermittelt dastehen, so als ob sie nicht mehr zu einer kohärenten Theorie zusammenfänden, nein: es ist die Musik, die aus diesem heterogenen Gespräch gleichsam aufsteigt, es sind Klänge aus Mozarts Requiem, „in der Erhabenheit, mit der das Sakrale aus dem Alltäglichen herausgeschält wird“[9], wenn nicht sakral, so ist es doch in philosophischer Tradition erhaben, eine kathartische Richtung anzeigend, den Weg, den der Mensch mit A Bao A Qu gehen könnte, nicht in alten Gefühlswelten verharrend, aber doch neuen (vorerst nur musikalisch darstellbaren) Geisteswelten entgegenstrebend.

 

Nochmals zur Stern-Metapher: so wie die Sterne sich zu Stern-Bildern konfigurieren, so tun es die Dinge, im Kino formieren sie sich letztendlich zu Bildfolgen. Die kleinste Einheit dieser Sequenzierung ist die Gegenüberstellung zweier Bilder (bei Godard sehr oft als wiederholte, schnell ausgeführte Alternation), und das vollkommene Modell dieses Paares nennt der Filmemacher Champ et Contrechamp, Schuß und Gegenschuß, damit bezeichnet er das Zusammenspiel eines Gegensatzes, eine gewisse Dialektik oder Polarität; Wirklichkeit scheint durch solche Polarität bestimmt und definiert. Für die Konstitution von Kunst spielt dabei das Spannungsfeld zwischen Dokumentation und Fiktion ein besondere Rolle (réalité comme légende – légende comme réalité, eine Textformel, die in The old place mehrfach eingeblendet wird). Das künstlerische Denken – das sagt die Stimme Miévilles in dem Film - beginne „mit der Erfindung einer möglichen Welt“ und konfrontiere dieselbe durch künstlerisches Tun mit der äußeren Welt. Dieser Dialog zwischen Imagination und Arbeit ermögliche „eine immer schärfere Darstellung dessen, was man gemeinhin Realität nennt“[10]. In der Konfrontation von erfundener und von abgebildeter Welt konfiguriert sich momentweise Realität (eben nicht in der klassischen Raum- und Personendramaturgie: die Perspektive, also jene in der Renaissance entwickelte 3D-Darstellung – heißt es in Histoire(s) du cinema[11] – sei „die Ursünde abendländischer Malerei“ gewesen). In diesem Sinn wird Abbild und Erfindung bei Godard immer wieder aufeinander bezogen, z.B. durch Alternation eines dokumentarischen Photos und eines Gemäldes, auch Spielszenen aus Filmen werden durch Gemälde „komplementiert“. Naturalistisch dargestellte Personen begegnen imaginären, d.h. aus imaginierten Welten stammenden Figuren. In dem Film Weekend (1967) begegnen die beiden Protagonisten einem fabulierenden Paar in historischen Kostümen. Aus Wut darüber, dass sie keine Auskunft erhalten, verbrennen sie die fremde Frau (Emily Brontë darstellend). „Siehst Du nicht, das sind doch nur imaginäre Gestalten“, versucht der Mann die Bedenken seiner Gefährtin zu zerstreuen, „wir sind das im Grunde auch“, erwidert ihm diese. In The old place wird eine Szene aus Godards Film Allemagne 90 neuf zéro (1991) zitiert: der Fahrer eines havarierten ostdeutschen Trabis (meistgefahrenes Automobil der DDR) begegnet einem Don Quichotte zu Pferde, dazu zitiert Godards Stimme aus Thomas Manns Zauberberg: „Kann man die Zeit erzählen, diese selbst, als solche, an und für sich? Wahrhaftig, nein, das wäre ein närrisches Unterfangen!“. Miévilles Stimme erwidert, abgeleitet von einem Zitat Maurice Blanchots: „L'art n'était pas à l'abri du temps. Il était l'abri du temps“ (das Wortspiel ist schwer zu übersetzen: „Kunst ist nicht geschützt vor der Zeit, Kunst schützt die Zeit“). Hier wird demonstriert, was die Konfrontation erfundener und dokumentierender Bilder kann: sie kann Zeit veranschaulichen als Basismoment unserer menschlichen Realität. Ein „Abstraktum“ wird darstellbar, welches in überlieferter Erzählweise nur indirekt zum Ausdruck gebracht werden könnte.

Die herkömmliche narrative Dramaturgie befriedigt diesen Darstellungswillen nicht, auch deshalb werden essayistische Formen begünstigt. Narrativität wird damit jedoch nicht aufgegeben, eher zurück an ihre Wurzeln geführt: wir haben schon erwähnt, dass der Essayfilm The old place in einer Erzählung endet (über das imaginäre Wesen A Bao A Qu) und darin auch inhaltlich kulminiert. Nachdem das Labyrinth durchschritten ist, werden elementare Wahrheiten auf mythologischer Basis zusammengeführt, d.h. erneut in eine archaisch-narrative Form gebracht. Auf dieses mythische Erzählen läuft es hinaus, das noch so komplizierte Geflecht von Worten-Klängen-Bildern (dieser Prozess lässt sich auch in zeitgenössischen Dramaturgien des Sprech- und des Musiktheaters beobachten), mag diese Perspektive nun tiefenpsychologisch oder anders gedeutet werden. Abermals manifestiert sich das Telos der Ursprünglichkeit.

 

Godard führt uns durch ein Zeichenlabyrinth und kann auch hier an Formen künstlerischer Moderne, vor allem der Nachkriegsavantgarde anknüpfen. Zu den Sprachkünstlern dieser Richtung gehört der italienische Schriftsteller Edoardo Sanguineti, der vom Sumpfpfad des Irrationalismus und des Formalismus, der Anarchie und der Entfremdung sprach, der sich gezwungen sah, diesen Sumpfpfad zu beschreiten, in der Hoffnung, auf der anderen Seite, wenn auch beschmutzt, hinauszufinden, dem Schlamassel zu entkommen[12]. Für den Komponisten Luciano Berio schrieb er den Text zu dem Hörtheater Laborinthus II, das mit einer doppelten Metapher, quasi mit Champ und Contrechamp schließt: hier der durch den Schmutz Gegangene, dort träumende Kinder. Godard versucht sich von den ideologischen Bindungen zu lösen, denen Sanguineti und andere noch verhaftet sind. Er begibt sich mit seinen Zuschauern auf eine Sinnsuche, die keine Ebene ausschließt (wenn auch nicht alle berücksichtigt) noch auf den leichten Erfolg setzt (wie es bei den um Deutungshoheit besorgten Programmatikern im materialistischen wie auch spiritualistischen Lager der Fall ist), doch wenn wir seine Intention recht verstanden haben, scheint er selbst davon überzeugt, dass in mancher Bildkonstellation etwas von diesem Sinn aufleuchtet. Der Contrechamp des Bildes ist freilich nicht nur das andere Bild, sondern in radikalster Form das Nicht-Bild. „Das Bild ist Glück. Aber daneben befindet sich das Nichts“ (zitiert Godard Maurice Blanchot, u.a. in Notre musique), daneben tut sich ein Abgrund des Nicht-Erkennbaren auf, vielleicht aber auch die Chance zur anikonischen Erneuerung[13].

 




[1] In Erinnerung an einen äußerst solitären Kinobesuch (Notre musique) und in der Hoffnung, dass die Bedeutung seiner jüngsten Filme erkannt wird, d.h. mit dem Wunsch nach kritisch-verständnisvoller Rezeption derselben.

[2] The old place hat Godard 1999 zusammen mit Anne-Marie Miéville für das New Yorker Museum of Modern Art produziert.

[3] Dialog Godard - Miéville im Film The old place (eigentlich Rezitation einer Text-Collage mit 2 Sprechern), abgedruckt im Textbuch zur DVD: Jean-Luc Godard/ Anne-Marie Miéville, Four short films: De l’origine du XXIe siècle - The old place - Liberté et patrie - Je vous salue, Sarajevo , ECM, München 2006, S.26.

[4] Das Tafelbild könnte nach einem byzantinischen Vorbild in Italien um 1340 entstanden sein. Bernadette Soubirous, die Seherin von Lourdes, der man verschiedene Mariendarstellungen vorlegte, habe - so wird berichtet - der Cambrai-Madonna die größte Authentizität zugeschrieben.

[5] Jorge Luis Borges (in Zusammenarbeit mit Margarita Guerrero), Einhorn, Sphinx und Salamander. Buch der imaginären Wesen (= Gesammelte Werke, Bd. 8), Hanser, München/ Wien 1982, S.9 f.

[6] Im Film heißt es: „im Buch der Bücher“. Die folgende in Klammern gesetzte Passage wurde von Godard/ Miéville gestrichen.

[7] Paul Valéry, Cahiers/ Hefte 6, hg.v. Hartmut Köhler und Jürgen Schmidt-Radefeldt, übersetzt von Bernhard Böschenstein, H. Köhler und J. Schmidt-Radefeldt, S.Fischer, Frankfurt a.M. 1993, S.485.

[8] Henri Bergson, Materie und Gedächtnis und andere Schriften, Deutsch von Julius Frankenberger, S.Fischer, Frankfurt a.M. 1964, S.245.

[9] Kaja Silverman in: id./Harun Farocki, Von Godard sprechen, aus dem Englischen von Roger M.Buergel, Vorwerk, Berlin 1998, S.204.

[10] Dialog in The old place, S.34.

[11] Das Zitat entnehmen wir Teil 3b von Histoire(s) du cinema : Une vague nouvelle, entstanden 1998.

[12] Edoardo Sanguineti, Poesia informale? (1961), in: Manifesti dei movimenti letterari italiani del Novecento, hg. v. Angelo R. Pupino, CUECM, Catania 1991, S. 470.

[13] siehe unsere Abhandlung Du sollst Dir kein Bild machen.

 

Version 2016