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© Joachim Noller 2015/2016

 

 

Joachim Noller

 

Der cineastische Kontrapunkt

Film und Musik bei Hans Richter

 

 

 

 

In der Avantgarde des frühen 20.Jahrhunderts gab es eine starke Strömung, die sich auf die Musik als Modell künstlerischer Erneuerung bezog. Dies galt für das Theater, die Literatur, die bildenden Künste wie Malerei und Skulptur. Eine weitere Kunstform, die gerade erst im Entstehen begriffen war, wird in diesem Zusammenhang seltener erwähnt: es ist der (sowohl avantgardistischen wie auch gesamtkünstlerischen Vorstellungen verpflichtete) Film, der jedoch keinesfalls traditionslos, aus dem Nichts kommend, zu denken ist, da er die historisch gewachsene Bilddarstellung sprichwörtlich „zum Laufen“ brachte und die Erneuerungsbestrebungen, mit der etwa die Malerei und das Theater konfrontiert war, unter Anwendung technischer Errungenschaften fortzuführen und zuzuspitzen vermochte[1]. Beispielhaft ist das Schaffen von Hans Richter[2], in dessen Titelgebung, seine Malerei betreffend, mehrfach die Begriffe Präludium und Fuge vorkommen, der in seiner Bild- und Filmtheorie von Orchestrierung, Generalbass und vor allem von kontrapunktischen Satztechniken sprach, dessen cineastisches Oeuvre in den 20er Jahren mit einer kleinen Werkserie begann, die Rhythmus genannt wurde (unter jeweiliger Hinzufügung einer Jahreszahl). Richter gab dem Film Musik und Ton, in feiner Differenzierung: zunächst war es eine musikalische Idee, eine poetologische Idee also, die sich ausdrücklich, in einigen Aspekten auch implizit auf Musikalisches berief; sodann verzichtete Richter nicht auf den realen Klang, er postulierte die Notwendigkeit einer akustischen Komponente, welche sich durch die Visualisierung musikalischer Ideen aus seiner Sicht noch nicht erübrigt hat.

 

Zur Idee des musikalischen Films

 

Die musikalische Idee gründet nicht nur in der Faszination für die Tonkunst, woraus die Absicht resultieren würde, deren Prinzipien zielgerecht auf andere Künste zu übertragen. Es sind poetologische und ästhetische Ideen, deren „Musikalität“ sich z.T. erst herausstellt. Man könnte also einen Denkweg beschreiten, der nicht von der Musik kommt, sondern zu ihr hinführt, auf dem sich die musikalische Referenz erst allmählich konkretisiert.

Richter stellt die Frage nach der grundsätzlichen Funktion von Kunst. Sie sei „Organ des Individuums sich in einen[r] transzendentalen Welt Sinn zu geben“. Kunst diene „der Verwirklichung einer höheren Einheit: der Idee des Menschen in der Menschheit: der Vollendung des Individuums in einer höheren Organisationsform“. Es gehe um ein Ganzes, um die Synthese des Einzelnen auf der Basis eines konstruktiven Prinzips. Motiviert durch die Erkenntnis, „daß wir einer vollkommeneren Existenz fähig“ seien, artikuliere sich die „Forderung einer totalen Ethik“, die darauf abziele, „‚auf Totalität hin‘ zu handeln“ [3]. Die neue Kunst soll also ein Ganzes, eine Totalität darstellen, in der sich Sinn konstituiert. Die Gründe solcher Einstellung mögen vielfältig sein. Richter selbst verweist auf die Möglichkeit zeitgeschichtlicher Erklärung: „The upheaval of World War I, I am sure, had something to do with this urge for ‚order‘. I myself felt the need to establish an Archimedean standpoint, to penetrate the chaos which threatened from every direction. […] So strong was this historical impulse to establish ‚a 'New Order' that might restore the balance between heaven and hell‘ (as Arp put it), that it expressed itself practically simultaneously, though independently, in various places on the globe[4].

Dabei handelt es sich jedoch nur um eine Komponente künstlerischer Motivation; zur Deskription besagter Totalität bedarf es jedenfalls nicht ausschließlich „neuer“ Ordnungsbegriffe. Bei der Musik, die hier als künstlerisches Vorbild dient, spielt Althergebrachtes eine bedeutende Rolle: „Thus, in the contrapuntal fugue, we found the appropriate system, a dynamic and polar arrangement of opposing energies, and in this model we saw an image of life itself“[5], ein Abbild des Lebens schlechthin und nicht nur einer Episode, einer Situation; die Kunst zielt also weiterhin auf Nachahmung, aber nicht auf Nachahmung augenscheinlicher Wirklichkeit(sausschnitte), sondern auf Nachahmung der holistischen, also ganzheitlichen Art, Nachahmung von etwas, das sich nicht im Rahmen eines Sehfelds abspielt.

Zur Darstellung dieser Totalität bedarf es einer gewissen Form, die sich – unter Einbeziehung des Faktors Zeit – als Rhythmus konstituiert. Der Rhythmus sei „die Grundform“ eines Films, „sofern er Kunst ist“[6]. Rhythmus sei „gewissermaßen ein Konzentrierungsverfahren“, durch das „der Ausdruck der Bewegungen“ in eine Ordnung gebracht werde[7]. Richter versteht den „Rhythmus“ als Grundform nicht nur in seinen abstrakten, also den frühen Filmen, die man als prozessualisierte Fortentwicklung ab­strakter Malerei interpretieren könnte. Rhythmus ist das, was aus Richters poetischer Sicht auch die verschiedenen, oft disparaten Handlungen und Figuren der später entstandenen Filme zusammenbindet: „I have always tried to articulate a kind of melody of movements found sometimes with animals, with human beings, with landscapes or whatever; but underneath is always the flow of rhythm - of an articulated time element“[8].

Der Rhythmus, den Richter in seinen Filmwerken verwirklichen will, müsste eigentlich Polyrhythmus genannt werden. In seiner Poetik versucht der Maler und Filmkünstler sehr heterogene Positionen zusammenzuführen, was sich vor allem in den cineastischen Werken strukturell und stilistisch niederschlägt: „Die Kunstgeschichte geht in Sprüchen und Widersprüchen vor sich: in dem Suchen nach einer absoluten Freiheit, wie in Dada - nach einer absoluten Ordnung und Disziplin, wie bei Mondrian - , dem Suchen nach dem Wunderbaren, der Blauen Blume der Romantik, nach einer neuen Magie und gleichzeitig dem Suchen nach der Realität, nach einem sozial-politischen Inhalt … und überall und immer wieder dem Suchen nach dem ‚Neuen‘, der Zukunft“[9]. Richter möchte Destruktion mit strenger Konstruktion verbinden, möchte Metaphysisches und Magisches in einer antimetaphysischen Kulturlandschaft retten, möchte unter solch unkonventionellen Voraussetzungen sozialpolitische Inhalte transportieren etc. Die rhythmischen Prozesse, die solches zu integrieren vermögen, müssen eine gewisse Komplexität aufweisen. Und dem entspricht der zweite Schlüsselbegriff in Richters Poetik: „Die im Prinzip komplizierteste und reichste Form strenger Rhythmisierung ist die Kontrapunktion. Im Schema: das Anwachsen einer oder mehrerer Bewegungen in dem Maß, in dem entsprechende Gegenbewegungen abnehmen“[10]. Als Richter mit dem Komponisten Ferruccio Busoni die für ihn aktuelle Problematik diskutierte, wie Gegensätzliches in ein Gleichgewicht zu bringen sei, verwies ihn dieser auf das Vorbild des „klassischen“ Kontrapunkts in der Musik, vor allem in den Fugen J.S. Bachs. Indem er „diese polare Ordnungsidee aus der Musik in die Malerei zu übersetzen versuchte“, habe er begonnen, „mit den einfachsten positiv-negativen Verhältnissen“ (schwarz und weiß, auf und ab etc.) auf Papierblättern zu musizieren[11].

Bachsche Kontrapunktik wurde für Richter zum „Ausgangspunkt für eine ‚Harmonisierung‘ der Fläche, in der Weiß und Schwarz ein dynamisches Verhältnis zueinander einnahmen“[12]. Weiß - Schwarz repräsentierte hierbei die simple Elementarform eines Spannungsverhältnisses, einer Polarität (das Prinzip des Kontrapunkts sei nämlich auch ein Prinzip der Polarität[13]), die schließlich sehr komplexe Formen annehmen konnte. Der Mensch soll in die Lage versetzt werden, „auch komplizierte Prozesse ohne Schwierigkeit aufzunehmen“[14]. Formkonstellationen, in denen solche Prozesse zur Geltung kommen, existieren nicht um ihrer selbst willen, sondern sind Ausdruck menschlicher Verhältnisse; es geht, wie gesagt, um De- und Konstruktion (und das nicht nur im ästhetischen Sinn), um physische und metaphysische Notwendigkeiten, um Aufklärung und Magie, um individuelle und gesellschaftliche Bedürfnisse, um eine Polarität, die Spannung aufbaut, aber auch Anziehungskräfte entwickelt.

Im Zentrum von Richters poetologischer Terminologie stehen die Begriffe Rhythmus und Kontrapunkt. Seine Filme sind also auf eine sehr vordergründige Weise durch musikalische Vorstellungen geprägt, und wir müssen uns die Frage stellen, ob es eigentlich eines expliziten Klangs, einer musikalisch-akustischen Komponente bedarf. Erübrigt sich nicht durch Einlösung eines musikalischen Modells das oft fragwürdige Supplement einer Begleitmusik[15]? In diesem Sinn wurde auch vielfach kritisiert, dass Richter zu seinen abstrakten Rhythmus-Filmen der 20er Jahre Musik erklingen ließ. Doch er tat es, und seine Tonfilme, die alsbald entstanden, beschränkten sich nicht auf sprachliche Monologe/ Dialoge, sondern bezogen Klänge und Geräusche auf eine äußerst reflektierte Weise mit ein. Zu welcher Musik greift ein musikalistisch denkender und agierender Filmkünstler? Diese Frage wird uns im Folgenden beschäftigen (und darin liegt auch der Schwerpunkt unserer kleinen Abhandlung).

 

 

Zur Musik des musikalischen Films

 

Was in der Literatur zu Hans Richters Leben und Schaffen bis dato nur wenig Beachtung fand, ist seine intensive Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Musik, sowohl aus allgemeinem Interesse, als auch ganz gezielt auf der Suche nach geeigneter Filmmusik. In seinem Buch Begegnungen von Dada bis heute gibt es ein kleines Kapitel, das von dieser Suche und ihren Schwierigkeiten berichtet: Paul Hindemith - so lesen wir dort - habe die Musik für Vormittagsspuk (1928) geschrieben, nach dem Krieg jedoch eine weitere Mitarbeit im Film Dreams that money can buy (1944-47) abgelehnt: „Er war ja auch nicht mehr der Hindemith des frivol tanzenden Opernstücks Vor und Zurück der zwanziger Jahre“[16]. Dann erwähnt Richter Darius Milhaud, der zu fünf seiner Filme die Musik schrieb und im Unterschied zu Hindemith „eine freiere, aufgelöstere Form der modernen Musik“ [17] repräsentierte. Des weiteren gab es die Auseinandersetzung mit einer Avantgarde, die sich klanglich weit von Hindemith oder Milhaud entfernt hatte: so begegnete Richter in den USA - kurz nach seiner Auswanderung anno 1941 - Edgar(d) Varèse, dessen Musik ihm beim ersten Hören schwer zugänglich war. Dies galt in der Nachkriegszeit auch für die elektronische Musik jüngerer Komponisten, z.B. Karlheinz Stockhausens: „Obgleich ich die Absicht sah, fehlte mir das Erleben. Aber unabweisbar bleibt die Erkenntnis, daß dort wie in der modernen Kunst (z.B. durch die Benutzung von Computern) Bestrebungen gelten, die den Bereich des Hör- und Sichtbaren durch die Wissenschaft und Technik des 20.Jahrhunderts erweitern wollen“[18]. Wie viele Künstler, die in Malerei oder Literatur an vorderster avantgardistischer Front kämpften, hat auch Richter mit den jüngsten Errungenschaften der Musik seine liebe Mühe (und verbirgt selbige nicht, auch nicht im Rückblick seiner letzten Jahre).

In Richters Buch Dada Profile werden zwei der schon erwähnten Komponisten porträtiert, die andernorts in solchem Kontext kaum erscheinen würden. Im Kunstverständnis des Autors (wie oben skizziert) gehören sie zur spannungsreichen Polarität einer großen, weitgefassten Dada-Welt : da ist zum einen Ferruccio Busoni, dem er sein Theorem des Kontrapunkts verdankt und dessen konservativer Tonsatz ihn keineswegs stört. Er erinnert sich an die Aufführung der Oper Arlecchino [19] im Züricher Stadttheater: „eine erleuchtend fröhliche Erinnerung im Gegensatz zu gewissen modernen Opern, die ich eben dort hörte, aber bei denen man wie von Furien durch vier Stunden gehetzt wurde“[20]. Und dann, als ob es eines Gegensatzes bedürfte, erhält auch Varèse seine dadaistische Profilierung. Die Quintessenz klingt hier fast hymnisch: „Die Musik von morgen? Vielleicht? Die Musik von heute bestimmt! Denn sie macht uns bekannt mit der Tonwelt, in der wir täglich leben. Mit Tönen, die jahrhundertelang aus der Musik ausgeschlossen, nicht einmal vorhanden waren“[21]. Inwiefern mit diesen Worten Varèse‘ Klangwelt erfasst wird, sei dahingestellt. Richter verbalisiert hier jedoch in erster Linie eigene Klangvorstellungen, zumindest deren innovative Seite: er möchte Akustisches aus unserer Alltagswelt einbeziehen. Das könnte auf Musique concrète, auf John Cage oder anderes in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verweisen. Und doch würde Richter das selbstzufriedene, das exklusive Neutönertum in Frage stellen: Jene traditionelle Musik nämlich, von der er selbst sagt, dass sie die Alltagstöne jahrhundertelang ausgeschlossen habe, wird von ihm vice versa nicht ausgeschlossen, im Gegenteil: er zollt ihr immer wieder aufs Neue Respekt (wir werden diese Haltung in den späten Filmen bestätigt sehen). Dem Klangbild ungebrochener Tradition ist er zeitlebens verbunden, postuliert aber dennoch die Öffnung in eine neue Sphäre, man könnte auch sagen: angestrebt wird eine duale ars acustica, die Erschaffung einer parallelen (unter Fortführung der bestehenden) Klangwelt. Welche Musik im Allgemeinen und welche filmische Tonspur im Besonderen könnte dieser polaren Ästhetik Genüge tun? Gibt es den Tonkünstler, der solche Vorstellungen zu realisieren vermag, den Zwitter Busoni-Varèse, der das, was Richter in beide hineininterpretiert, zusammenzuführen vermag?

Fakt ist, dass sich Richter von Anfang an auf die schwierige Suche nach einer geeigneten Filmmusik begab. In einer Berliner Matinee anno 1925 (unter dem Titel Der Absolute Film) wurde Film ist Rhythmus (eventuell Rhythmus 21 in Kombination mit Rhythmus 23) von vierhändigem Klavierspiel begleitet. Ein Rezensent schrieb von „Geräuschen auf einem Klavier“, die „von Stefan Wolpe erdacht, von zwei Klavierspielern hervorgerufen und von den Zuschauern mit Pfeifen aufgenommen wurden“ [22]. Mancher Zuschauer mag die Musik als Störfaktor empfunden haben. Nach dieser experimentellen Frühphase folgten komponierte Filmmusiken (die ersten stammen von Hans Heinz Stuckenschmidt für Filmstudie[23] [1928] sowie, wie schon erwähnt, von Hindemith für Vormittagsspuk [1928]), und dabei handelt es sich noch um die musikalische Begleitung von Stummfilmen. Als ersten Tonfilm, d.h. als Film mit eigener Tonspur bezeichnet Richter selbst Alles dreht sich, alles bewegt sich (1929), in dem Musik und Dialog mit Hilfe des Komponisten Walter Gronostay „in einem abstrakten und rhythmischen Maß“ zur Geltung gebracht worden sei[24].

In der Abhandlung Filmgegner von heute - Filmfreunde von morgen, die 1929 erstveröffentlicht wurde, erscheint der „Tonfilm“ als Projekt, dessen künstlerische Konkretisierung noch aussteht: „Der Ton kann die optischen Bewegungen steigern oder sie abschwächen, er kann auf sie durch Mit- oder Gegenbewegung bezugnehmen, er kann die Assoziationsmöglichkeiten vermehren, den Rhythmus deutlicher machen durch Mit- oder Gegenspiel. Der Ton kann Geräusch, Klang oder gesprochenes Wort sein - aber sinnvoll wird er im Film erst dadurch, daß er seinen Platz in einem künstlerischen Gesamtplan erhält“[25]. In diesem Text werden auch die zwei Grundbegriffe Rhythmus und Kontrapunkt etabliert: die „reichste Form strenger Rhythmisierung“ sei „die Kontrapunktion“, wie wir schon zitiert haben. Die Idee der Kontrapunktik[26] wird von Richter in den kommenden Jahren weitergedacht und systematisch fortentwickelt: aus zwei Ideen, Bild und Ton, - so der Filmemacher 1958 – sei eine dritte Idee geboren worden: „der Kontrapunkt von Bild und Ton“[27].

Eine pointiert moderne, nämlich strukturell bzw. strukturalistisch gedachte Kontrapunktik weist die in ihrer Bildwelt Marcel Duchamp gewidmete 4.Traumszene von Richters Film Dreams that money can buy auf (1944-47, Titel der Szene: Discs, and nudes descending a staircase). Die Musik für präpariertes Klavier stammt von John Cage, der sie mit folgenden Worten beschreibt: each 11 measures of 5/4 (and the whole which is 11 x 11 measures) is phrased (and the whole divided into parts) according to the following relationship: 3, 1, 3, 1, 2, 1. These numbers were derived from the time lengths given by the film itself as related to the pulse of 120 to the minute. By ‘derived’, I mean: arrived at from a desire to be with the film phrases at certain points and against or in ‘contrapuntal’ relationship with it at other points”. An dieser Stelle fügt Cage eine Fußnote hinzu: “ ’Counterpoints’ not intended by me took place in the subsequent actual joining of film and soundtrack”[28]. Man kann - allein aufgrund der Wortwahl - davon ausgehen, dass Richter den Komponisten über seine Tonfilmästhetik in Kenntnis gesetzt hat; und Cage war – mehr als andere - in der Lage, sich darauf einzulassen.

Es muss darauf hingewiesen werden, dass Kontrapunktik im Sinne Richters selbstverständlich nicht nur Gegensätzlichkeit kultiviert. Akustisches - wir haben es schon zitiert - nehme auf Optisches Bezug „durch Mit - oder Gegenbewegung“, „durch Mit- oder Gegenspiel“. In einem interessanten Aufsatz über Die schlecht trainierte Seele, über die Notwendigkeit eines angemessenen Psychotrainings, postuliert Richter (unter Berufung auf die Arbeiten seines Freundes Viking Eggeling) eine „Synthese der Anziehungs- und Abstoßungskraft“[29], eine Kultivierung von Kontrasten, Gegensätzen, Unterscheidungsmerkmalen auf der einen und von Analogien, Ähnlichkeiten, Verwandtschaften auf der anderen Seite. Nur durch entsprechende Wechselwirkung würde ein neues Empfinden entstehen, eine neue „Psyche, die auf diese Weise mit einer gewissen ‚Denkfähigkeit‘ ausgestattet“ sei[30].

Richter selbst beschreibt musikalische Beispiele aus seiner 1952-57 entstandenen Schachsonate in 8 Sätzen (A Chess Sonata in 8 movements) mit dem Haupttitel 8x8: in der 3. Episode (A new twist) blase Alexander Calder „seinen ‚Lebensodem‘ in einen ganzen Wald kleiner Mobiles“[31]. Der phantasiereiche Bildvorgang werde assoziiert mit der Tonaufnahme einer Verkehrsstockung am New Yorker Times Square, einer Geräuschkulisse, deren emotionelle Note sich in diesem Calderschen Zusammenhang wandeln würde von ursprünglicher Konfusion zur „Nachricht von etwas sehr Lebendigem“[32]. In Richters Eigeninterpretation wandelt sich also der Kontrast in eine Analogie, verliert der akustische Kontrapunkt seine Gegensätzlichkeit und beginnt das (visuelle) „Hauptthema“ assoziativ zu unterstützen. Als weiteres Beispiel erwähnt der Filmemacher die 7. Episode von 8x8: in dieser spielt Jean Cocteau einen „Bauern“, der sich, nach den Regeln des Schachspiels, schließlich in eine Königin verwandelt. Schachzüge sind rhythmisch organisierte Bewegungen, und die beiden Autoren, Richter und Cocteau, suchten nach einer „Klangform“, die sich eben darauf beziehen sollte. Das Ergebnis war ein rhythmisch organisierter Text aus einer Schachfibel, vorwärts und rückwärts gesprochen, schnell und langsam, mit ganzen Sätzen und Teilen davon, in verschiedenen Sprachen. Die akustischen und die visuellen Gestaltungsmodi dieser Szene nehmen assoziativ ganz unterschiedlich auf das „Sujet“ Bezug (also auf die Schachzüge der Bauernfigur mit schlussendlicher Umwandlung in eine Königin). Beim ersten Hinhören mag die Sprachmusik als Kontrast zum surrealen bildlichen Vorgang empfunden werden, andererseits veranschaulicht und demonstriert sie das Prinzip der rhythmischen Struktur, in der sich - wie Richter immer wieder betont - die künstlerische Qualität des Films als Ganzem, auch der optischen Seite, verifiziert; also kann auch hier die Verknüpfung eines Mit- und Gegenspiels behauptet werden.

Damit wäre der Kontrapunkt zwischen den Künsten, das Verhältnis von Bild und Ton, wäre die Richtersche Umsetzung einer typisch modernen Gesamtkunstidee in aller Kürze skizziert, nun führt der Denkweg wieder zurück zu unserem primären Anliegen, zur internen Bestimmung des akustischen Parts, zu den Eigenschaften eines Tons, der mit dem Bild koordiniert, ihm aber nicht subordiniert ist. Was charakterisiert in Richters Verständnis eine gute Filmmusik, einen passenden Soundtrack?

Die Beispiele aus dem Film 8x8 ­­- der „umgedeutete“ Straßenlärm sowie ein sprachmusikalisch verarbeiteter Text - könnten die Vermutung nahelegen, dass Richter radikal-moderne bzw. avantgardistische Klangkonzepte bevorzugt. Doch hier - wir sind darauf vorbereitet - ist Vorsicht geboten. In seinen späten Filmen erklingen auch tonale, ins 19. Jahrhundert weisende Orchestersätze; nochmals sei daran erinnert, was wir über Richters allgemeine Musikauffassung erfahren haben: bei allem Bemühen, in die neue Klangwelt vorzudringen, bleibt seine Faszination für die großen Traditionen europäischer Musikgeschichte ungebrochen.

Richters weit gefasster Musikbegriff schlägt sich in einer stilpluralistischen Gestaltung des Soundtracks seiner späten Filme nieder. In 8x8 habe er versucht, „für jede der 8 Episoden den Ton auf eine andere Weise zu benutzen“, um „das Ohr mit dem Einfallsreichtum der Töne zu beeindrucken“[33]. Was dem Tonfilm seine eigentliche Daseinsberechtigung gebe, sei ein Konzept, in dem „alle Möglichkeiten der Worte, Musik, realistische und unrealistische Toneffekte, verzerrter Ton, Simultangeräusche und Vielfalt der Sprachen, auf dem Tonband“ zur Anwendung kämen[34]. Der Film wird zum Ort, an dem unterschiedlichste musikalisch-akustische Ausdrucksmodi nicht aus ästhetischer Schwäche oder Indifferenz, sondern aus dramatischer Notwendigkeit zusammenfinden.

Gleichwohl lassen wir uns nicht in der Frage beirren (weil sie mit dem Gesagten noch keine befriedigende Antwort gefunden hat), in welchem Soundtrack Richters poetisch-poetologische Vorstellungen auf paradigmatische Weise verwirklicht sind. Wo ist die Filmmusik, in der Richter (selbstverständlich in Zusammenarbeit mit dem jeweiligen Klangkünstler) ein Exempel statuiert?

Wir hatten eine polare Musikästhetik diagnostiziert, einerseits die Verankerung in Traditionen (repräsentiert durch Busoni), andererseits die Öffnung in ganz neue akustische Welten, die Einbeziehung einer Klang- und Geräuschwelt, in der wir heute leben (repräsentiert durch Varèse). Welche Musik im Allgemeinen und welche filmische Tonspur im Besonderen - die Frage haben wir schon einmal formuliert - könnte solch einer polaren Ästhetik Genüge tun? Gibt es den Tonkünstler, oder - da sich diese Kunst nicht auf Töne beschränken kann - den Sound-artist, der solche Vorstellungen zu realisieren vermag, der - ohne sich dessen bewusst zu sein - etwas von Busoni und von Varèse in sich vereint?

Den letzten Traum, genannt Narcissus, von Dreams that money can buy, hat Richter in eigener Verantwortung gestaltet, also nicht in Zusammenarbeit mit einem anderen bildenden Künstler ( Alexander Calder oder Marcel Duchamp, Fernand Léger, Max Ernst, Man Ray) oder mit Bezug auf dessen Bildwelt, wie das in den anderen Träumen der Fall ist. Es interessiert uns folglich besonders, welche Tonspur dieser (im Übrigen autobiographisch deutbaren) Story unterlegt ist. Louis Applebaum hat einen recht traditionellen, handwerklich korrekten Instrumentalsatz geschrieben (streckenweise sehr melodiös, u.a. mit ausdrucksstarken Oboenstimmen), in seinen eigenen Worten: „music perhaps a bit more orthodox in its materials than the others[35]. Was aber in dieser Traumszene besonders auffällt, sind intarsierte, einmontierte Geräusche oder Klänge: Nicht zu überhören ist - gleich einem Leitmotiv - das wiederholte Geräusch eines Zuges, einer Dampfeisenbahn, d.h. in unterschiedlicher Form, u.a. mit einer besonderen Montagequalität, mehrfach abgeschnitten; bisweilen erscheint das Geräusch modifiziert, als wäre es elektronisch verarbeitet. Dann vernimmt man etwas anderes: „metallic jangling“[36] bzw. „das metallische Klingen von Ringen“[37] (sind es die großen Metallringe, die im Film gezeigt werden, aber an anderer Stelle, was die Trennung von Bild und Ton unterstreichen würde?). In dieselbe Kategorie - d.h. akustischer Intarsien - gehören noch Klänge eines Jazz-Klaviers sowie das Klacken eines Metronoms.

Die Geräusche seien symbolisch zu verstehen, lesen wir in einer Abhandlung zu diesem Film[38]. Andernorts wird das Zuggeräusch als Filmzitat aus L’Arrivée d’un train à La Ciotat (1895) der Gebrüder Lumière[39] interpretiert; doch was hat die visuelle Wirkung von 1895 mit dem akustischen Motiv in Richters Film zu tun? Aufschlussreicher ist hier der Text, welcher im Vorspann eingeblendet wird: „Everybody dreams. Everybody travels. Sometimes into countries where strange Beauty - Wisdom - Adventure - Love expects him. This is a story of dreams mixed with reality“. Der Narcissus-Traum ist die in Traumsymbolen übertragene Geschichte einer Lebensreise, einerseits auf die Lebensgeschichte Hans Richters bezogen, anderseits über das Individuelle hinausweisend. Nun ist diese Szene nicht bloß (wie alle Traumszenen des Films) von einer realistisch anmutenden Story umgeben, sie stellt in sich selbst eine Story dar, die - wie der Vorspann sagt - Traum und Realität vermischt. Und die akustische Gestaltung entspricht dieser Dialektik, indem sie dem ästhetischen, einer fiktiven Welt angehörenden Orchesterklang auffällige akustische Objekte hinzufügt, die sich als Realien erweisen, als Fenster zur (besser: zu einer) Hörwirklichkeit, als realistische Komponenten eines „Traums“ oder einer als Traum bezeichneten symbolischen Form, mit der ein Künstler menschliches Innenleben auf adäquate Weise zu erfassen sucht (genaugenommen, wenn wir den Bezug zu dem gesprochenen Monolog herstellen, stammen die akustischen Realien aus einer erinnerten Wirklichkeit). Hier hat Richter also etwas von jener Polarität realisiert, die seine Musikanschauung bestimmt: da sind - verkürzt ausgedrückt - ästhetische Zeichen unserer musikalischen Hochkultur sowie - auf der anderen Seite - pragmatische Zeichen unserer akustischen Umwelt (zumindest auf eine pragmatische Funktion verweisend[40]), Zeichen, die nun symbolisch aufgeladen und künstlerisch eingebunden werden, die zur Erweiterung unseres ästhetischen Systems beitragen, deren Herkunft aber immer noch erkennbar bleibt.

Interessant ist die Verwendung des Metronoms: es erklingt zu den letzten Worten des Protagonisten, der hier nach überstandener Krise einen ziemlich optimistischen Ausblick wagt. Schon zu Beginn seines Monologs wird das Metronom erwähnt (wieder die Trennung, hier zwischen Wort und Klang!): „In an emergency there are a few things you can count on. The metronome in yourself. On mother’s piano“: das Metronom stand auf dem Klavier von Richters Mutter, die an diesem Ort sein Interesse, seine Liebe für die „klassische“ Musik geweckt hat, und dieses Metronom wird nun im Bewusstsein des Sohnes zu einem Symbol in mehrfacher Hinsicht: es repräsentiert einen ganzen Komplex an Gefühlen und Assoziationen (Mutterbeziehung, primäre musikalische Erlebnisse), es repräsentiert eine Art von isochronem Urrhythmus („das Metronom in dir selbst“, wir erinnern uns an Richters Idee kunstschaffender Rhythmik), es repräsentiert den Funken kindlicher Lebensenergie, die dem alternden Menschen bleibt, nach Ernst Bloch die Utopie, die in die Kindheit leuchtet. In solcher Symbolik evoziert das Metronom mehr „Musik“ als jedes herkömmliche Streich- oder Blasinstrument, andererseits wandelt es sich materialiter nicht, es klackt, wie einst auf dem mütterlichen Klavier, und bleibt, was es ist: ein technisches Hilfsmittel zur musikalischen Zeitgestaltung.

Polarität konstituiert sich gemäß Richters Logik immer in einer kontrapunktischen Form. Die einmontierten Realien (die in sich selbst divergente Funktionen aufweisen) repräsentieren dabei einen modernen, einen zeitgemäßen Kontrapunkt. Letztlich finden die Busoni- und die Varèse-Welt zu einer Synthese, die aber keine dialektische Aufhebung vorsieht. Beide Welten koexistieren, und schließen sich gegenseitig nicht aus. Kontrapunktik erfüllt ihre Aufgabe auch darin, dass ein Spannungsverhältnis aufrechterhalten wird.

Eine mit dem Narcissus-Traum von Dreams that money can buy vergleichbare Polarität findet sich in dem schon erwähnten Film 8x8, der cineastischen Schachsonate in 8 Sätzen. In deren letzter Szene, also dem 8. „Satz“ (Titel: The fatal move) spielt sich Paul Bowles quasi selbst in der Rolle als Komponist[41] (wobei die Musik nicht von Bowles, sondern von Douglas Townsend stammt). Man sieht, wie der Tonkünstler zu komponieren versucht, wie er von einem Flötenspieler (dargestellt von dem mit Bowles befreundeten Marokkaner Ahmed Ben Driss El Yacoubi[42]) aus einem surrealen Innenraum (einem möblierten Swimmingpool: die Möbel tauchen aus dem Wasser auf) nach draußen, in eine Art Ur- und Märchenwald gelockt und wie er, der Kulturschaffende dort von wilden Pflanzen, von der Natur „aufgefressen“, überwuchert wird. Den neobarocken, klassizistischen Melodien des Flötenspielers stehen Perkussionsklänge gegenüber; schon hier scheint „Busoni“ mit „Varèse“ zu alternieren, doch die von Richter angestrebte Polarität führt weiter: Musik, die - so unterschiedlich sie ist - eine gewisse Stilhöhe aufweist, kontrastiert mit einem ganz anderen Sound, der von einem Telefon kommt: Dieses Telefon klingelt mehrfach; der Komponist nimmt nicht ab, auch wenn er seine Hand schon am Hörer hat, doch dringen Stimmen aus dem Apparat, die mit dem Adressaten zu kommunizieren versuchen, ihn zu bedrängen scheinen, bis er die Schnur durchtrennt und schließlich dem Flötenspieler in den Wald folgt….

Im Vorspann des Filmes wird diese Schlüsselszene folgendermaßen interpretiert: „The telephone which the musician-poet does not want to answer is the demanding world of reality, he refuses to accept… he prefers to listen instead to the soothing flute of his inner voice …”. Die bildlich-filmische Umsetzung lässt uns die Deutung des Flötenspiels als innere Stimme als nicht zwingend erscheinen. Die Flöte gehört mit den Irrläufen des Komponisten im wuchernden Wald zu einer Fantasy-Welt, und das Telefon ist zusammen mit den Satzfetzen, die aus dem Apparat dringen, Teil einer Reality. Es ist eine Fantasy-Story[43] mit Türen zur Alltagsrealität, die der Protagonist jedoch nicht durchschreiten will. Auch hier begegnet uns wieder diese Polarität, dieser Kontrapunkt, dessen Darstellung erst mit Hilfe akustischer Mittel zur Geltung gebracht wird.

Die Filmmusik, die Richters Poetik entspricht, muss also eine radikale Kontrapunktik in sich selbst realisieren, und nicht nur im Verhältnis zur bildlichen Darstellung (vielleicht herrscht daselbst gar ein höherer Grad an Konvergenz). Somit hat sich die aktuelle Umsetzung Bachscher Kontrapunktik von klassischen Satztechniken weit entfernt. Das Ergebnis ist keine Musik von kohärenter Stilistik, auch der Begriff Stilpluralismus scheint nicht mehr angebracht. Letztlich hat kein Komponist das Richtersche Konzept verwirklicht ohne aktive Mitarbeit des Filmemachers selbst (der die Tonkunst gleichsam mit Elementen einer Sound-art konfrontiert), ohne all die Geräusche, Sprachklänge etc., die keine zufälligen Accessoires darstellen, sondern den Film als (Gesamt)Kunstwerk komplettieren. Richter schafft dadurch Spannungszustände, die den Zuschauer überhaupt erst auf die musikalische Gestaltung aufmerksam machen.

 

***

 

Zum Schluss begeben wir uns nochmals auf die Bedeutungsebene. Kontrapunktik ist nicht nur l’art pour l’art. In unserem ersten Abschnitt („zur „Idee des musikalischen Films“) ist das schon angeklungen. Formkonstellationen - heißt es dort - würden nicht um ihrer selbst willen existieren, sondern seien Ausdruck menschlicher Verhältnisse. Der kontrapunktische Aufbau einer Fuge, bei dem gegensätzliche Energien dynamisch aufeinander bezogen werden, erscheint Richter als Modell und Abbild des Lebens; und diese Deutung könnte nun als Anspruch auf die Filmkunst übertragen werden. Dazu gehört auch die zitierte Forderung, der Künstler möge „auf Totalität hin“ handeln, mit anderen Worten: er möge das Zusammen-(Mit- und Gegen-)Spiel aller Kräfte zur Geltung bringen[44]. In seiner filmischen Kontrapunktik (wir haben uns auf musikalische Relationen beschränkt) versucht Richter, auf verschiedenen Ebenen größtmögliche Spannungsweiten zu erzielen, er versucht, die „Pole“ abzustecken und auf diese Weise das ganze Terrain zu erfassen, das Terrain essentieller Lebenswirklichkeit. Am Schluss des Narcissus-Traums in Dreams that money can buy kommt der Protagonist (Richters alter ego) zu folgender Erkenntnis: „And the world went to pieces and the pieces lived on separately. But the farther I came, the more all events lost their isolated meaning. Everything seemed to happen at once and in the same space. […] There is so much ahead of me. So much that I have to find out“. Die Welt zerbricht in Stücke, aber die Bedeutungen fügen sich zusammen. Die Weltfragmente werden in einen sinnhaften Zusammenhang gebracht. Etwas kristallisiert sich heraus, das ganz ist und doch in sich unterschieden, etwas, zu dessen Darstellung der Künstler auf musikalische Modelle zurückgreift. Richters Beitrag zur mimetischen Neuorientierung im 20. Jahrhundert ist bemerkenswert.

 




[1] Der vorliegende Text könnte den thematischen Diskurs in: Joachim Noller, Kleine Philosophie der musikalischen Moderne. Musik und Ästhetik im 20. Jahrhundert (Röhrig, St. Ingbert 2003) ergänzen. Vor dem Hintergrund musikalistischer Konzepte (in verschiedenen Künsten) wird daselbst der Sinn realer Klänge erörtert. Ein Beispiel der cineastischen Kunst möchte ich hiermit nachreichen.

[2] Hans Richter, eigentlich: Johannes Siegfried Richter, geb. am 6.4.1888 in Berlin, gest. am 1.2.1976 in Minusio (Schweiz). Wir verweisen auf den Ausstellungskatalog (Martin-Gropius-Bau Berlin/ Los Angeles County Museum of Art/ Centre Pompidou Metz): Timothy O. Benson (Hg.), Hans Richter: Begegnungen, Prestel, München etc. 2014. Im Internet werden mehrere Filme Richters zum Download angeboten.

[3] Richter, Prinzipielles zur Bewegungskunst, in: De Stijl 4.Jg., Nr.7, 1921, abgedruckt in: Forschungsnetzwerk BTWH: C.Bareither/ K.Beals/ M.Cowan/ P.Dobryden/ K.Fest/ K.Müller-Richter/ B.Nemec (Hgg.), Hans Richters Rhythmus 21. Schlüsselfilm der Moderne, Königshausen & Neumann, Würzburg 2012, S. 202 f.

[4] Ders., Easel-Scroll-Film, in: Magazine of Art, vol.45, no.2, February 1952, S. 78 f.

[5] Ders., My experience with movement in painting and in film, in: György Kepes (Hg.), The nature and art of motion, Braziller, New York 1965, S. 142.

[6] Ders. (unter Mitarbeit von Werner Gräff), Filmgegner von heute - Filmfreunde von morgen, Hermann Reckendorf, Berlin 1929; unveränderter fotomechanischer Nachdruck: Hans Rohr, Zürich 1968; Neuausgabe mit einem Vorwort von Walter Schobert: Fischer, Frankfurt a.M. 1981, S. 34.

[7] Ders., Der Kampf um den Film. Für einen gesellschaftlich verantwortlichen Film, hg.v. Jürgen Römhild, Carl Hanser, München 1976, Taschenbuchausgabe: Fischer, Frankfurt a.M. 1979, S. 147.

[8] Ders. zit. n. Viola Kiefner, Hans Richter (1888-1976). Zur Wechselbeziehung von Bild und Musik bzw. Ton in seinen Zeichnungen, Bildern und Filmen, Magisterarbeit, Universität Hamburg 1988, S. 99.

[9] Ders., Begegnungen von Dada bis heute. Briefe, Dokumente, Erinnerungen, DuMont Schauberg, Köln 1973, S. 10.

[10] Ders., Filmgegner von heute…, S. 41.

[11] Ders. zit. n. Kiefner, S. 29.

[12] Ders., Dada - Kunst und Antikunst. Der Beitrag Dadas zur Kunst des 20. Jahrhunderts, DuMont Schauberg, Köln 1964, S. 62.

[13] Richter: „the principle of counterpoint (polarity)“ (zit. n. Kiefner, S. 92).

[14] Ders., Der Kampf um den Film…, S. 63.

[15] Unschwer sind Verbindungen von Richters Filmschaffen zur zeitgenössischen Theateravantgarde zu erkennen. Als Beispiel sei auf die Bauhausbühne und das Schaffen Oskar Schlemmers verwiesen. Dessen „Elementartänze“ habe ich selbst wie folgt kommentiert: „Und obwohl er diesen Tänzen Musik unterlegt, wäre der reale Klang doch zu entbehren. Musik scheint aufzugehen im Tanz, in der Bewegung, in der Gestaltung von Figur und Raum. Es ist ein musikalisches Theater, das keiner Töne bedarf (und damit gestische Kompositionen der sechziger und siebziger Jahre antizipiert)“ (Noller, Klang/Bewegung. Musik und Tanz im modernen Gesamtkunstwerk [Kandinsky - Schreyer - Schlemmer], in: C.Floros/ F.Geiger/ Th.Schäfer [Hgg.], Komposition als Kommunikation. Zur Musik des 20. Jahrhunderts [= Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft, Bd. 17], Peter Lang, Frankfurt a.M. etc. 2000, S. 25). Wahrscheinlich hätte Schlemmer meinem Statement widersprochen.

[16] Richter, Begegnungen von Dada bis heute…, S. 58.

[17] Ebenda.

[18] Ebenda, S. 61.

[19] Der Einakter wurde am 11.Mai 1917 im Züricher Stadttheater uraufgeführt.

[20] Richter, Dada Profile. Mit Zeichnungen - Photos - Dokumenten, Die Arche, Zürich 1961, S. 23.

[21] Ebenda, S. 112.

[22] Hans Pander über Richters Film in der Matinee am 10.Mai 1925, zit. n. Holger Wilmesmeier, Deutsche Avantgarde und Film. Die Filmmatinee „Der absolute Film“ (3. und 10. Mai 1925), LIT, Münster/ Hamburg 1994, S. 88.

[23] Der Film wurde zunächst wie seine 3 Vorgänger mit dem Titel Rhythmus versehen.

[24] Richter, Bemerkungen zu meinen Arbeiten, in: Hamburger Filmgespräche III, hg. von der Hamburger Gesellschaft für Filmkunde e.V., Hamburg 1967, S. 23.

[25] Ders., Filmgegner von heute…, S. 117.

[26] Mit dem Postulat einer Bild-Ton-Kontrapunktik steht Richter nicht allein; man findet es auch im modernen Musik- und Sprech-Theater. In seinen „Anmerkungen zur Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ (erstveröffentlicht 1930 anlässlich der Uraufführung der Oper, die 1927-29 entstanden ist) fordert Bertolt Brecht „eine radikale Trennung der Elemente“: Musik, Wort und Bild müssten „mehr Selbständigkeit erhalten“ (Bertolt Brecht, Gesammelte Werke 17. Schriften zum Theater 3, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1967, S. 1010 f.). Was die Filmtheorie anbelangt, lesen wir in einem Manifest („Die Zukunft des Tonfilms“) aus dem Jahr 1928, unterschrieben von Sergej Eisenstein, Wsewolod Pudowkin und Grigori Alexandrow: „nur die kontrapunktische Verwendung des Tons in einer Beziehung zum visuellen Montageabschnitt eröffnet neue Möglichkeiten für die Entwicklung und Vervollkommnung der Montage. Die ersten experimentellen Arbeiten mit dem Ton sollten auf seine krasse Nichtübereinstimmung mit den visuellen Sinnbildern gerichtet sein. Nur ein solcher ‚Sturmangriff‘ bewirkt jenes notwendige Empfinden, das späterhin zur Schaffung eines neuen orchestralen Kontrapunkts von visuellen und akustischen Bildern führt“ (das Manifest ist abgedruckt in: Sergej Eisenstein, Das dynamische Quadrat. Schriften zum Film, Röderberg, Köln 1988, S. 154-156). Julia Catherine Sander stellt die Bedeutung dieses Manifests heraus (Film-Träume - Traum-Filme. Hans Richters Film Dreams that money can buy [1947] als poetologische Reflexion der historischen Avantgarde, Martin Meidenbauer, München 2010, S. 97 f.). Jedoch hat Richter die „Kontrapunkttheorie“ nicht nur „aufgegriffen“, sondern eigenständig mitentwickelt. In jedem Fall ist die zeitliche Koinzidenz dieser Programmatik bei Brecht, Richter, Eisenstein (weitere Namen ließen sich hinzufügen) bemerkenswert.

[27] Richter 1958, zit. n. Kiefner, S. 111.

[28] John Cage, The music to „Discs“, im Programmheft Dreams that money can buy, Films International of America, New York 1947.

[29] Richter, Die schlecht trainierte Seele (1924), abgedruckt in: C.Bareither etc. (Hgg.), Hans Richters Rhythmus 21…, S. 211.

[30] Ebenda, S.213.

[31] Ders., Bemerkungen zu meinen Arbeiten, S. 24.

[32] Ebenda.

[33] Ders. 1958, zit. n. Kiefner S. 112.

[34] Ebenda, S. 111.

[35] Louis Applebaum, Music for „Dreams“, im Programmheft Dreams that money can buy.

[36] Siehe das rekonstruierte Drehbuch als Transkript der Untertitelung in der DVD des British Film Institutes, in: Sander, S. 154. Die Textpassagen aus Dreams, die wir im Folgenden zitieren, sind in diesem Transkript nachzulesen.

[37] Sander, S. 96.

[38] Stefanie Casal/ Pia Lanzinger, Dreams that Money can buy, in: Hilmar Hoffmann/ Walter Schobert (Hgg.), Hans Richter: Malerei und Film, Katalog der Ausstellung im Deutschen Filmmuseum, Frankfurt a.M. 1989, S. 110.

[39] Siehe Sander, S. 121.

[40] Dies gilt auch für den Piano-Jazz als Gebrauchsmusik aus dem Radio. Im Monolog des Protagonisten heißt es an dieser Stelle: „Turn on the radio. It saves conversation“.

[41] Bekannt wurde Paul Bowles jedoch als Literat.

[42] In der Namenskurzform wird er auch Ahmed Yacoubi genannt.

[43] Aus dem Text des Film-Vorspanns: „This film deals with the world of fantasy. It is a fairytale for grownups. It explores the realm behind the magic mirror which served Lewis Carroll 100 years ago to stimulate our imagination”.

[44] In Noller, Kleine Philosophie der musikalischen Moderne…, Teil I: Ästhetisches Denken und Musik, S. 25 ff. wird dieses ästhetische Ziel als „Quadrivialisierung“ interpretiert. Weitere kontextuelle Aspekte finden sich in dieser Abhandlung.