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© Joachim Noller 2016/17

 

 

 

Joachim Noller

 

Als müsste Wissenschaft die Bildkraft der Phantasie töten

Alexander v. Humboldt und die Darstellung des Naturganzen

 

Wissenschaften erforschen unsere Wirklichkeit und präsentieren daraus resultierende Ergebnisse, also stellen sie etwas dar von dieser Wirklichkeit. Man könnte sagen: jede Wissenschaft arbeitet an der Ausgestaltung eines Puzzle-Teils. Ziel ist die Vervollständigung, und schon in den ersten Ergänzungs-„Zügen“ beginnt das Ratespiel, was denn das Ganze darstellen möge. Die Frage erhebt sich: wer fügt die einzelnen Puzzle-Teile zusammen? Wer übt eine integrative Funktion aus in der wissenschaftlichen Gesellschaft? Wir könnten in die Geschichte gehen und die zeitweise Ausübung dieser Funktion bei Theologen oder Philosophen erkennen. Die übrigen Wissenschaften würden sich solchen Mediatoren heute widersetzen, man pocht auf fachliche Souveränität und ist dabei von geschwisterlicher Eintracht weit entfernt: es gibt einen endlosen Kampf um die Vorherrschaft; paradigmatische Ansprüche werden erhoben (gestern war es die Soziologie, heute sind es die Neurowissenschaften), als ob einer einzigen, der führenden Wissenschaft die Koordination obläge, während die anderen nur ihre Teilchen beitrügen. Nachdem dieselben schon längst platziert sind, modifiziert der eine oder andere Beiträger seine Position und Darstellung, so dass sich das Bild ständig verändert und keinen formalen Abschluss findet. Wie also die ganze Wirklichkeit aussieht, das meinen die Spieler uns zwar vorherzusagen, jeder aus seiner Denkperspektive, aber es mangelt an integrativer Kompetenz. Fast alle, und sei es mit Vorbehalten, sind jedoch der Meinung, dass es die ganze Wirklichkeit gibt, und auch die Absicht, sie zur Darstellung zu bringen, ist allgemein vorhanden. Die Darstellung ist Teil wissenschaftlicher Intentionalität, aber sie kommt nicht zustande. Die mimetische Arbeit unserer Puzzle-Spieler bleibt Fragment. Und weil das Spiel immer weiter gespielt wird, ohne ein Ende zu finden, kommt uns eine mythische Geschichte in den Sinn, mit einem Protagonisten namens Sisyphos

Auch unsere Puzzle-Metapher mag das ganzheitliche Ziel verfehlen, weil sie wesentliche Elemente des Problems nicht erfasst. Damit entsprechen wir wissenschaftlicher Methodik, die bestimmte Aspekte hervorhebt und andere ausblendet. Zur Ausrede - die wissenschaftliche genügt uns nicht - sei darauf hingewiesen, dass wir uns erst am Anfang der Argumentation befinden.

Wenn nun Alexander von Humboldt die „Erkenntniß eines Naturganzen“ in den Mittelpunkt seines großen Alterswerkes Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung (in 5 Bänden erstveröffentlicht zwischen 1845 und 1862) stellt, und dabei von seiner Mitwirkung spricht am „Streben der Menschheit das Zusammenwirken der Kräfte in dem Erd- und Himmelsraume zu begreifen“, dann geschieht dies nicht - wie man bisweilen argwöhnt - in Abkehr von zeitgemäß-progressiver Wissenschaftlichkeit. Die Geschichte besagter Erkenntnis eines Naturganzen bezeichne „die Epochen des Fortschrittes in der Verallgemeinerung der Ansichten“ (K 240[1]), und der wissenschaftliche Fortschritt ermögliche es, dieser Erkenntnis näher zu kommen. Humboldt entwirft keine radikal alternative Wissenschaft, er ist sichtlich bemüht, sich in den Entwicklungsstand einzuordnen. Interessant ist die Stelle aus einem Vorläuferwerk der „Weltbeschreibung“ mit dem Titel Ansichten der Natur [2], wo der Autor eine anatomische Arbeit zitiert, in der organisches Leben beschrieben wird: „Die Summe der Zellen“ - heißt es in der zitierten Abhandlung - sei „ein Organismus, und der Organismus lebt, so lange die Theile im Dienste des Ganzen thätig sind“[3]. Humboldt könnte daraus schlussfolgern, dass ganzheitliches Denken im Organischen sein Paradigma und damit auch den Erkenntnisweg zur Erfassung einer Totalität gefunden habe. Und diese organizistische Argumentation wäre nicht die erste und schon gar nicht die letzte ihrer Art. Doch unser Autor geht einen anderen Denkweg: „Die Schwierigkeit die Lebenserscheinungen des Organismus auf physikalische und chemische Gesetze befriedigend zurückzuführen liegt großentheils, und fast wie bei der Vorherverkündigung meteorologischer Processe im Luftmeer, in der Complication der Erscheinungen, in der Vielzahl gleichzeitig wirkender Kräfte, wie der Bedingungen ihrer Thätigkeit[4]. Es ist fast eine chaostheoretische Denkweise: Organisches unterscheidet sich von Anorganischem durch seine Komplexität, mit gradueller aber nicht kategorialer Differenz. Eine alternative Seinsstruktur scheint es nicht zu geben, und damit auch keinen alternativen Denkweg [5].

Bezugsrahmen ist die neuzeitliche Wissenschaft; methodologisch hebt Humboldt mehrfach hervor, dass er an deren Prinzipien, die als empiristisch und induktiv bezeichnet werden, festhält: „[…] wo das Sein und Werden nur der unmittelbaren Forschung unterworfen bleibt, wo man den empirischen Weg und eine strenge inductorische Methode nicht zu verlassen wagt“ (K 39). Der Drang nach dem Verstehen des Weltplans leite „zu der denkenden Betrachtung dessen, was die Empirie uns darbietet, nicht aber ‚zu einer Weltansicht durch Speculation und alleinige Gedankenentwickelung, nicht zu einer absoluten Einheitslehre in Absonderung von der Erfahrung‘ “ (K 389)[6]. Humboldt möchte den empirischen Weg der Erkenntnisfindung nicht aufgeben, er möchte verallgemeinern, sucht aber nicht das apriorisch Allgemeine vor und jenseits aller Erfahrung. Wir haben es schon in unserem Puzzle-Vergleich erwähnt: der Philosoph wird in seiner alten hegemonial-mediatorischen Rolle nicht mehr geduldet. Humboldt gibt jedoch zu bedenken, dass philosophische Generalisierung einen Teil seiner holistischen Erkenntnisarbeit darstellt, allein sie muss das empirische Primat anerkennen: „Mißbrauch oder irrige Richtungen der Geistesarbeit müssen aber nicht zu der, die Intelligenz entehrenden Ansicht führen, als sei die Gedankenwelt, ihrer Natur nach, die Region phantastischer Truggebilde; als sei der so viele Jahrhunderte hindurch gesammelte überreiche Schatz empirischer Anschauung von der Philosophie, wie von einer feindlichen Macht, bedroht. Es geziemt nicht dem Geiste unserer Zeit, jede Verallgemeinerung der Begriffe, jeden, auf Induction und Analogien gegründeten Versuch, tiefer in die Verkettung der Natur-Erscheinungen einzudringen, als bodenlose Hypothese zu verwerfen“ (K 37).

Neuzeitliche Natur- ist Erfahrungs-Wissenschaft. Humboldt hält an diesem Prinzip fest, auch wenn es ihn in eine aporetische Zwickmühle führt: auf empiristischer Basis müsste die Erkenntnis eines Naturganzen durch Summierung aller Einzelerkenntnisse erreicht werden, doch das Ziel befindet sich im Unendlichen: „Die Unvollendbarkeit aller Empirie, die Unbegrenztheit der Beobachtungssphäre macht die Aufgabe, das Veränderliche der Materie aus den Kräften der Materie selbst zu erklären, zu einer unbestimmten. Das Wahrgenommene erschöpft bei weitem nicht das Wahrnehmbare“ (K 397). Der Wissenschaftler postuliert das Naturganze, aber er kann es nicht erfassen.

Humboldt ist nun bemüht, das Erkenntnisziel zu relativieren, ohne dabei den Sinn dieser Arbeit in Frage zu stellen: „Wenn uns aber auch das Ganze unerreichbar ist, so bleibt doch die theilweise Lösung des Problems, das Streben nach dem Verstehen der Welterscheinungen der höchste und ewige Zweck aller Naturforschung“ (K 36). Auf dem Weg zum Ganzen liegt die Erkenntnis vieler Interdependenzen und Zusammenhänge, die den eigentlichen wissenschaftlichen Fortschritt ausmacht, „wie in dem Lauf der Jahrhunderte die Menschheit zu einer partiellen Einsicht in die relative Abhängigkeit der Erscheinungen allmälig gelangt ist“ (K 39); „das Erforschen eines partiellen Causalzusammenhanges und die allmälige Zunahme der Verallgemeinerungen“ sind für Humboldt „die höchsten Zwecke der kosmischen Arbeiten“ (K 870), da sie die faktischen Ergebnisse des utopischen Strebens nach ganzheitlicher Erkenntnis ausmachen. Man könnte daraus folgern, und dies entspräche einer freien Auslegung der Paulus-Worte in 1.Korinther 13,9: menschliches Wissen bleibt Stückwerk, aber auch dieses Stückwerk macht nur Sinn, wenn es auf Vollkommene(re)s verweist. Das, worauf verwiesen wird, ist nicht erfassbar, lässt sich nicht darstellen, aber es bestimmt den Wert des zur Darstellung gebrachten Stückwerks. Humboldts Denken ist in diesem Sinne ein intelligenter Fragmentarismus[7].

Wenn wir unsere Puzzle-Metapher wieder aufgreifen, dann kann der weitgereiste Forscher und Entdecker nicht nur ein, sondern mehrere Puzzle-Teilchen mitgestalten; möglicherweise gelingt es ihm, Formen zu identifizieren, die anderen Mitspielern verborgen bleiben. Dabei hält er die Regeln des wissenschaftlichen Spiels ein und schöpft dessen Möglichkeiten aus, gerät so an die Grenzen konventionalisierter Wissenschaft, aber nicht an kognitive Grenzen, nicht an seine Erkenntnisgrenzen schlechthin. Es existieren noch andere „Spiele“, die Menschen erkenntnisfördernd betreiben, und die er nun in den Dienst seiner großen Idee des Naturganzen stellen möchte. Dies ist nicht das Alternativ-, sondern das Ergänzungsprogramm. Humboldt verweist auf die anthropologische Bandbreite aller Motive, die kognitiven Prozessen zugrunde liegen: „So leiten dunkle Gefühle und die Verkettung sinnlicher Anschauungen, wie später die Thätigkeit der combinirenden Vernunft, zu der Erkenntniß, welche alle Bildungsstufen der Menschheit durchdringt, daß ein gemeinsames, gesetzliches und darum ewiges Band die ganze lebendige Natur umschlinge“ (K 11). Es geht um Einbeziehung und Maximierung jeglicher Erkenntnisform, die seiner Zeit zur Verfügung steht. Und hier liegt der Grund, warum sich ein Kulturwissenschaftler dem Entwurf einer physischen Weltbeschreibung zuwendet.

Lesen wir, wozu Humboldt uns schon auf den ersten Seiten seiner Abhandlung ermahnt: „Einseitige Behandlung der physikalischen Wissenschaften, endloses Anhäufen roher Materialien konnten freilich zu dem, nun fast verjährten Vorurtheile beitragen, als müßte nothwendig wissenschaftliche Erkenntniß das Gefühl erkälten, die schaffende Bildkraft der Phantasie ertödten und so den Naturgenuß stören. Wer in der bewegten Zeit, in der wir leben, noch dieses Vorurtheil nährt, der verkennt, bei dem allgemeinen Fortschreiten menschlicher Bildung, die Freuden einer höheren Intelligenz, einer Geistesrichtung, welche Mannigfaltigkeit in Einheit auflöst und vorzugsweise bei dem Allgemeinen und Höheren verweilt. Um dies Höhere zu genießen, müssen in dem mühsam durchforschten Felde specieller Naturformen und Naturerscheinungen die Einzelheiten zurückgedrängt und von dem selbst, der ihre Wichtigkeit erkannt hat und den sie zu größeren Ansichten geleitet, sorgfältig verhüllt werden“ (K 18). Hier wird eine bildkräftige Phantasie ins Spiel gebracht, die keine phantastischen Gebilde hervorbringt, sondern sich dem wissenschaftlichen Partikularismus entgegenstemmt und integrative Kompetenz fördert. Um „tiefer in die Verkettung der Natur-Erscheinungen einzudringen“, bedürfe es der „nach einem Causal-Zusammenhang grübelnden Vernunft“ genauso wie der „zu allem Entdecken und Schaffen nothwendigen und anregenden Einbildungskraft“ (K 37). Humboldt macht sich künstlerische Denkwelten zunutze, um seiner Idee des Naturganzen ein Stück weit näher zu kommen.

Wie aber kann Einbildungskraft Naturerkenntnis zur Geltung bringen? „Um die Natur in ihrer ganzen erhabenen Größe zu schildern, darf man nicht bei den äußeren Erscheinungen allein verweilen; die Natur muß auch dargestellt werden, wie sie sich im Inneren des Menschen abspiegelt, wie sie durch diesen Reflex bald das Nebelland physischer Mythen mit anmuthigen Gestalten füllt, bald den edlen Keim darstellender Kunstthätigkeit entfaltet“ (K 189). Die „objective Darstellung der Erscheinungen“ sei zu ergänzen durch den „Reflex der äußeren Natur auf das geistige Leben im Kosmos, auf die Gedanken- und die Gefühlswelt“ (K 869), an anderer Stelle wird Humboldt noch deutlicher: durch den „Reflex eines, durch die Sinne empfangenen Bildes auf das Innere des Menschen, auf seinen Ideenkreis und seine Gefühle“ (K 386). Es sind Natur-Bilder, die den Menschen, den menschlichen Geist dazu anregen, selbst bildend in Aktion zu treten. Der kreative Mensch entwickelt visuelle Formen, in denen sich Natur spiegelt. Diese Spiegelung kann in augenscheinlicher Wiedergabe bestehen, aber auch und vor allem in phantasiereicher Umwandlung. Jedenfalls ist Humboldt davon überzeugt, dass in solchen „Reflexen“ Kräfte der Natur erkennbar werden, die in phänomenaler Objektivität, als Untersuchungsgegenstand des Naturwissenschaftlers, nicht zu erkennen sind. Letztlich geht es hier um das Prinzip der natura naturans, einer schöpferischen, schaffenden Natur (der die geschaffene Natur, natura naturata, gegenübersteht). Natur wirkt auf den Geist des Menschen ein und bringt über diese Schaltstelle (vorausgesetzt, dieselbe ist dazu in der Lage) etwas von ihrem Wesen zum Ausdruck, macht es also erkennbar. Dem Wissenschaftler wird dieser Bereich somit erst auf Umwegen zugänglich.

 

 

Exkurs: Heisenbergs künstlerischer Abgesang

 

Im Jahre 1969 hat der Physiker Werner Heisenberg (1901-1976) unter dem Obertitel Der Teil und das Ganze „Gespräche im Umkreis der Atomphysik“ veröffentlicht. Wissenschaft entstehe im Gespräch, heißt es im Vorwort. Absicht des Verfassers sei es, „auch dem der modernen Atomphysik Fernstehenden einen Eindruck von den Denkbewegungen zu vermitteln, die die Entstehungsgeschichte dieser Wissenschaft begleitet haben“[8]. Interessant ist in unserem Zusammenhang der allerletzte Gesprächskomplex über „Elementarteilchen und Platonische Philosophie“: thematisiert wird das Verständnis von Elementarteilchen auf der Basis jüngster physikalischer Forschung (Quantentheorie etc.). Carl Friedrich v. Weizsäcker verweist auf die Möglichkeit philosophischer (Platons Ideenlehre) und mathematischer Erklärbarkeit, „ein Denken von so hoher Abstraktheit“, kommentiert Heisenberg, „wie sie bisher, wenigstens in der Physik, nie vorgekommen ist“[9]. Heisenbergs Frau Elisabeth zweifelt daran, dass sich die junge Forschergeneration für solche Probleme interessieren könnte; ihr scheint es, als wendeten sich diese „fast nur den Einzelheiten“ zu, als ob „die großen Zusammenhänge beinahe einer Art von Tabu“ unterlägen[10]. Heisenberg verteidigt seine jungen Kollegen, und an dieser Stelle endet das Gesprächs-Protokoll.

Das ganze Buch und die Schilderung aller Gespräche soll nun durch ein als platonisch bezeichnetes „Bild“ abgeschlossen werden. Es ist eine Szene aus einem Besuch bei Erich von Holst. Grund dieser Zusammenkunft ist nicht dessen biologische Fachkompetenz, sondern seine Fähigkeiten als Bratscher und Geigenbauer. Heisenbergs Söhne haben ihre Instrumente mitgebracht und spielen mit Holst Beethovens Serenade in D-Dur, „die von Lebenskraft und Freude überquillt und in der sich das Vertrauen in die zentrale Ordnung überall gegen Kleinmut und Müdigkeit durchsetzt“[11]. Der Autor erörtert also in diesem letzten Kapitel die großen Zusammenhänge, mit Humboldt gesprochen die Erkenntnis des Naturganzen (und der Buchtitel Der Teil und das Ganze bekommt hier erst seine Bedeutung). In Physik und Philosophie scheint Heisenberg Ansätze zu finden, deren tatsächliche Verifikation aber erst die Zukunft bringen mag. Was ihn momentan zufriedenstellt, sind gedankliche Assoziationen, die einem musikalischen Hörerlebnis entspringen. Hier spricht er mit einer Gewissheit, die ihm als Physiker niemals über die Lippen käme.

Ein Jahrhundert nach Humboldt hat die Wissenschaft nach wie vor Mühe, Erkenntnisse des Naturganzen zu formulieren; immer noch tut es not, wissenschaftliche Grenzen nicht nur zu erweitern, sondern sie auch zu überschreiten. Und als erkenntnisförderndes Gebiet erweist sich aufs Neue die Kunst, hier ist es die musikalische, die zum Paradigma wird für holistische Repräsentationsformen in der Moderne[12].

 

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Bei Humboldt ist der „Reflex der Natur auf das geistige Leben“ (s.o.) visueller Art, im tatsächlichen oder auch im metaphorischen Sinn. Letzteres vollzieht sich in einer bildkräftigen Sprache; es ist Humboldts primäres Medium, Natur darzustellen. Vom Genre her orientiert er sich an einer Art literarisch ambitioniertem Reisebericht. Die Sprache gerät ihm dabei stellenweise - nicht erst im Entwurf einer physischen Weltbeschreibung - sehr poetisch (was auch zu selbstkritischen Bemerkungen Anlass gibt). Das Wesentliche seiner Wortwahl fasst er in einem Brief an den Freund Karl August Varnhagen von Ense folgendermaßen zusammen: „Uebertragung der technischen Ausdrücke in glücklich gewählte, beschreibende, mahlende Ausdrücke. […] Die funkelnden Sterne erfreuen und begeistern, und doch kreist am Himmelsgewölbe alles in mathematischen Figuren. Die Hauptsache ist, daß der Ausdruck immer edel bleibe, dann fehlt der Eindruck von der Größe der Natur nicht“[13]. In einem anderen Brief versucht er den Erfolg seines Kosmos-Werks zu erklären: „Es liegt wohl in dem was die Menschen sich daneben denken und in der Bildsamkeit unserer deutschen Sprache, die es so leicht macht etwas anschaulich zu machen, durch Worte zu mahlen“[14]. Im übertragenen Sinne zu malen und daneben die abstrakte Sprache der Mathematik als wissenschaftliche, Wissen schaffende Polarität: es sind wieder die zwei Komponenten, der uns schon bekannte Dualismus, mit dem Humboldt Erkenntnisförderung betreibt.

Den größten Erkenntnisgewinn jenseits der Wissenschaft gesteht er der Malerei zu, genau genommen der Landschaftsmalerei. Und dieser Erkenntnisgewinn scheint deshalb so groß, weil er uns einer integrativen Wahrnehmung - in der Überzeugung Humboldts - näher bringt: „Himmelsbläue, Wolkengestaltung, Duft, der auf der Ferne ruht, Saftfülle der Kräuter, Glanz des Laubes, Umriß der Berge sind die Elemente, welche den Totaleindruck einer Gegend bestimmen. Diesen aufzufassen und anschaulich wiederzugeben ist die Aufgabe der Landschaftmalerei“. Besonders fasziniert ist er von den Rund- oder Panorama-Gemälden des britischen (irischstämmigen) Malers Robert Barker[15] (1739-1806). Diese Rundgemälde würden „die Wanderung durch verschiedenartige Klimate fast ersetzen“. Das könnte noch dem Mitteilungsbedürfnis eines Weltreisenden geschuldet sein. Doch ein paar Sätze danach folgt die ebenso abstrahierende wie auch konkretisierende Zuspitzung; Humboldt sagt, welchen Zweck solche Panorama-Bilder (im Sinne eines wesentlichen Beitrags) letztlich zu erfüllen hätten: „Der Begriff eines Naturganzen, das Gefühl der Einheit und des harmonischen Einklanges im Kosmos werden um so lebendiger unter den Menschen, als sich die Mittel vervielfältigen die Gesammtheit der Naturerscheinungen zu anschaulichen Bildern zu gestalten“ (K 233 f.). Es mag verwundern, welche Bedeutung der Landschaftsmalerei hinsichtlich der Erkenntnis des Naturganzen zugeschrieben wird. Und Humboldt steht hier nicht allein.

 

 

Exkurs: Landschaftsmalerei

 

Wir versuchen in der Geschichte zurückzugehen, in die Epoche des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Wir tun nicht so, als könnten wir uns in diese Zeit(en) hineinversetzen, und versuchen es deshalb mit einem Mix aus Einbildungskraft und fiktionsbezogener Memoria. Wir denken an künstlerische Zeugnisse, die Menschen von damals hinterlassen haben, und befinden uns urplötzlich in einem virtuellen Museum, dessen Wände voller Bilder sind. Sie stammen aus dem 14. oder 15. Jahrhundert. Wie wird die Natur dargestellt? Konzentrieren wir uns auf Bilder mit religiösem Sujet. Da gibt es eine Vielzahl an Kreuzigungen, Kreuzigungs-Szenen. Irgendwo, mehr am Rande des Bildes, ist eine Pflanze, eine Blume dargestellt. Dieses Gewächs hat ursprünglich einen symbolischen Wert, soll uns etwas über die Kreuzigung im Besonderen, vor allem jedoch über das christliche Heilsgeschehen sagen. Im Laufe der Jahre wird auf die Darstellung der Pflanze immer größere Sorgfalt verwandt. Man sieht, dass die Maler ihre Form, ihre Strukturen intensiv studiert haben. Man erkennt Details, mit denen der Erscheinungsform in allen Teilen entsprochen wird. Die Pflanze mutiert zu einem Objekt, dessen Symbolgehalt noch Erinnerungswert hat, mit dem jetzt aber vor allem Natur und sinnliche Realität repräsentiert wird.

Nun imaginieren wir eine andere Gemälde-Reihe (wieder so geordnet, dass sie den Epochenübergang und damit eine gewisse Chronologie dokumentiert); es sind keine Kreuzigungs-, sondern Verkündigungs-Szenen. Wir sehen Maria mit dem Engel. Der dargestellte Raum ist ein Zimmer, und hinten befindet sich ein Fenster oder eine Öffnung, und dieser Bildstelle gilt unsere Aufmerksamkeit. Der Raum öffnet sich also, und man blickt auf eine Landschaft, auch hier herrschen ursprünglich symbolische Sinnbezüge, und auch hier entwickelt sich schließlich eine Art von Verselbständigung, vergleichbar mit den einzelnen Naturobjekten in Kreuzigungsdarstellungen. Die Landschaft wird, obwohl ikonographischer Nebenschauplatz, zur malerischen Hauptsache. Es ist offensichtlich, dass der Maler viel Zeit bei der Gestaltung dieses „Fensters“ verwendet hat. Die Darstellung der Landschaft (wir befinden uns nach wie vor im virtuellen Museum und imaginieren eine geschichtliche Folge von Bildern) wird immer detailreicher, und jedes Teil gewinnt peu à peu an Wirklichkeitstreue, aber auch an Stärke des Ausdrucks.

Die einzelne Pflanze und die Landschaft: das ist im ikonographischen Kontext die Gegenüberstellung von Natur-Teil und Natur-Ganzem. Dass Landschaft ein Ganzes repräsentiert, ist wohl aus vor-, aber auch aus spätneuzeitlicher, aus mittelalterlicher und moderner Sicht nur schwer zu verstehen. Ein Schlüssel liegt in jenem Empirismus, den nicht erst Humboldt als Axiom wissenschaftlichen Denkens und Schaffens eingefordert hat und der seit der Renaissance - man denke an theoretische Abhandlungen Leonardo da Vincis - auch auf die Kunst (und auf jede Tätigkeit der Einbildungskraft) übertragen worden ist. „Erfahrungswissenschaften sind nie vollendet, die Fülle sinnlicher Wahrnehmungen ist nicht zu erschöpfen“ (K 35). Erfahrung hat demnach ihren Ausgang in sinnlicher Wahrnehmung (auf diese Weise werden Kunst und Wissenschaft der Neuzeit ästhetisiert[16]). Es gilt nun die Ressourcen an diesem ästhetisch-empirischen Ausgangspunkt zu nutzen: was kann das entsprechende Sinnesorgan? Beim Auge ist es die volle Inanspruchnahme des menschlichen Sehfelds. Es entstehen Panoramen, und jedes Landschaftsgemälde ist eine Art von Panorama, das sind die größtmöglichen empirischen Einheiten, das ist die „Mega-Portion“ Natur, die der Mensch momentweise wahrzunehmen vermag. Es ist der induktive Ausgangspunkt ganzheitlichster Art, von dem aus Naturerkenntnis möglich wird[17].

Carl Gustav Carus (1789-1869), Zeitgenosse und Briefpartner Humboldts, bezeichnet die Landschaftsmalerei als „Erdlebenbildkunst“. Hier wird die empirische Ganzheitlichkeit konkretisiert: Landschaft ist nicht nur durch unsere Anschauung wahrgenommene, sondern auch auf unser Dasein bezogene Natur, ist Lebensraum, Raum und Ambiente jeglichen Lebens: „Zeugnisse des Menschheitlebens vervollständigen also erst das Erdenleben und seine künstlerische Darstel­lung“; allerdings müssten „Menschen und Menschenwerke im Erdlebenbilde als durch die Erdnatur bestimmt erscheinen“[18], Menschen werden ins Spiel gebracht, aber nicht als homerische Helden vor einer Naturkulisse, sondern als Teil eines von landschaftlicher Darstellung repräsentierten Ganzen[19].

Im 20. Jahrhundert werden entsprechende Deutungen der Landschaft obsolet. Wer auf Ganzheitlichkeit abzielt, bedient sich abstrahierender oder vollkommen abstrakter Darstellungsweisen. Natur wird damit quasi resymbolisiert. „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar“, schreibt Paul Klee 1920 in seiner Schöpferischen Konfession. Früher habe man Dinge geschildert, „die auf der Erde zu sehen waren, die man gern sah oder gern gesehen hätte. Jetzt wird die Relativität der sichtbaren Dinge offenbar gemacht und dabei dem Glauben Ausdruck verliehen, daß das Sichtbare im Verhältnis zum Weltganzen nur isoliertes Beispiel ist [..]“[20]. Ausschnitten der Natur, Sehfeldern ist die Verweiskraft auf das Weltganze abhandengekommen. Die alltägliche, ästhetisch verifizierte Erfahrung ist nicht mehr Ausgangspunkt künstlerischer Darstellung. Der Empirismus (nicht die Erfahrung, wohl aber ihre paradigmatische Funktion), wie er von Humboldt in neuzeitlicher Tradition noch eingefordert wird, ist damit hinfällig, d.h. kann nicht mehr als Prämisse ganzheitlicher Erkenntnis akzeptiert werden.

Andererseits werden radikale Sinnfragen gestellt, die auch an der Repräsentation von Natur nicht vorübergehen. Der Maler und Essayist Emilio Tadini beispielweise offenbart einen Nihilismus, der herkömmliche Konnotationen von Natürlichkeit in Frage stellt, bestätigt aber im historischen Rückblick die Konventionalisierung ganzheitlicher Interpretationen des Genres Landschaftsmalerei: „Auch wenn wir das Wort ‚Natur‘ oft benutzen, um uns auf die Landschaft zu beziehen, ist die Natur etwas ganz anderes, viel mehr. Denn die Natur kann nichts anderes sein als die sich selbst erzeugende Gesamtheit des Universums - jenes unendlichen Körpers ohne Subjekt. Uns, zum großen Teil, inbegriffen. [..] Wir strengen uns immer an, den ästhetischen Wert der Landschaft zu verkünden. Eine kleine Religion - deren Heiligenbildchen die Postkarten sind. Eine kleine Religion, durch die wir uns in Wirklichkeit bemühen, die vollkommene Unsinnigkeit der Natur zu verdrängen“[21].

 

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Kehren wir zurück zu Humboldts Verständnis von Landschaftsmalerei. In seinem Denken erfüllt dieses Genre die kognitive oder epistemische Funktion der Kunstanschauung beispielhaft. Hier ist Nachahmung vorhanden, aber auch menschliche Kreativität. Dabei muss hervorgehoben werden, dass Nachahmung für Humboldt keinerlei pejorativen Beigeschmack hat und in der Erkenntnisgewinnung eine notwendige Funktion darstellt. Unser Autor ist überzeugt, dass dem Kunstrezipienten ein substitutiver (aber deshalb nicht minderwertiger) Naturgenuss geboten werden kann. Wir haben es schon erwähnt am Beispiel der Rund- oder Panorama-Gemälde: „Die Rundgemälde leisten mehr als die Bühnentechnik, weil der Beschauer, wie in einen magischen Kreis gebannt und aller störenden Realität entzogen, sich von der fremden Natur selbst umgeben wähnt. Sie lassen Erinnerungen zurück, die nach Jahren sich vor der Seele mit den wirklich gesehenen Naturscenen wundersam täuschend vermengen“ (K 233 f.). Humboldt ist also von einem Illusionismus überzeugt, der in den verschiedenen Künsten des 19. Jahrhunderts zur Spitze getrieben wird. Die Illusion erlaubt es dem Menschen, am Kunstwerk vollgültige Naturerlebnisse zu haben. Humboldt geht noch weiter: er, der weitgereiste Forscher, möchte seinen Zeitgenossen in Europa den Eindruck tropischer und subtropischer Vegetation vermitteln, da er glaubt, dass diese Vegetation mehr als die „nordische“ dem Menschen die Größe, die Erhabenheit der Natur wahrlich vor Augen führen kann. Und dies soll eben in malerischen Abbildungen geschehen. Jahrelang ist Humboldt auf der Suche nach Künstlern, die als Reisebegleiter beauftragt wären, den starken Ein- und Ausdruck fremder, exotischer Landschaften auf Papier und Leinwand festzuhalten. Abermals zeigt sich die illusionistische Überzeugung, und so wird die „wundersame“ Täuschung zu einem legitimen Erkenntnisweg (dessen Verfallszeit, wenn wir die historische Entwicklung betrachten, allerdings sehr kurz ist).

Nachahmung macht also Sinn, und doch postuliert Humboldt die schöpferische Freiheit, den zweiten ästhetischen Schritt, man könnte auch sagen das „Übermalen“ des Abgebildeten; er tut es nicht nur aus kunstästhetischer Tradition, sondern in der Überzeugung, dass Natur-Mimesis nur so - im Zusammenspiel von natura naturata und natura naturans - authentisch ist. Wir zitieren aus dem Entwurf einer physischen Weltbeschreibung: „Die Landschaftmalerei, welche eben so wenig bloß nachahmend ist, […] bedarf einer großen Masse und Mannigfaltigkeit unmittelbar sinnlicher Anschauung, die das Gemüth in sich aufnehmen und, durch eigene Kraft befruchtet, den Sinnen wie ein freies Kunstwerk wiedergeben soll. […] in der Landschaftmalerei und in jedem anderen Zweige der Kunst ist zu unterscheiden zwischen dem, was beschränkterer Art die sinnliche Anschauung und die unmittelbare Beobachtung erzeugt, und dem, was Unbegrenztes aus der Tiefe der Empfindung und der Stärke idealisirender Geisteskraft aufsteigt. Das Großartige, was dieser schöpferischen Geisteskraft die Landschaftmalerei, als eine mehr oder minder begeisterte Naturdichtung, verdankt […], ist, wie der mit Phantasie begabte Mensch, etwas nicht an den Boden gefesseltes“ (K 232). In der wahren Anschauung der Natur wird dieselbe nicht nur gesehen, sondern als wirkend empfunden, als schaffende Kraft, die den Rezipienten verändert (was einer Kurzdefinition des Natura-naturans-Prinzips gleichkommt).

Die exakte Abbildung gilt gerade in wissenschaftlichen Zusammenhängen als sinnvoll[22], bleibt aber Beiwerk, wird als notwendige, aber doch beschränkte Darstellungsform empfunden. Von den neuen präphotographischen Reproduktionstechniken, vor allem der Daguerreotypie, ist Humboldt durchaus fasziniert. Er fördert ihre Verbreitung, ihre Weiterentwicklung und erhofft sich einiges von der Möglichkeit, Details und Einzelheiten festzuhalten[23]. Dem nach wie vor gültigen Telos, Ganzheitliches in Erscheinung zu bringen, stehen die neuen Techniken indes nur bedingt zu Gebote. Sie haben ihre Funktion, können aber die Malerei, können künstlerisches Formen nicht ersetzen: „Obwohl Humboldt die Daguerreotypie mit den schönsten Stahlstichen verglich, so traute er dieser Methode inhaltlich nicht, hielt sie doch die Erscheinung in der Augenblicksaufnahme fest. Er dagegen wollte das durch das Auge des Künstlers gefilterte Wesentliche herausgearbeitet wissen“[24]. Sich mit den Möglichkeiten technischer Reproduktion zu begnügen, hieße, das Ziel, die Erkenntnis des Naturganzen aus den Augen zu verlieren. Um diesem Ziel jedoch näher zu kommen, verweist der Forscher auf die epistemische Potenz von Phantasie und Fiktion. Zwischen solcher Metaebene und seinem wissenschaftlich-dokumentarischen Streben entsteht in Humboldts Bewusstsein eine Spannung, die er auszuhalten, aber nie ganz zu harmonisieren versteht. Dies manifestiert sich auch im Verhältnis zum eigenen Sprachstil: Einerseits lobt er die „Bildsamkeit unserer deutschen Sprache“ (s.o.), andererseits irritiert ihn sein eigener Stil (was ihm kritische Stimmen soufflieren): „eine unglückliche Neigung zu allzu dichterischen Formen“[25]. Was aber wären Werke wie Ansichten der Natur und vor allem Kosmos (allein seiner Länge wegen) ohne das Metapherngeflecht, ohne die Fähigkeit, Dinge in ihrem Kontext sprachlich auszumalen.

 

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Am Beispiel der Humboldt-Rezeption zeigt sich, wie schwer es weiten Kreisen der Kulturtheorie fällt, verschiedene Epistemologien, verschiedene Erkenntniswege als komplementär, als Teil eines Ganzen, zumindest aber einer größeren Einheit zu begreifen. Bis heute wird unserem Protagonisten manche Grenzüberschreitung nicht verziehen, wird ein Wissenschaftsdefizit behauptet, wobei dieser Vorwurf auf die Kritiker zurückfällt: in seiner Kosmos-Idee - urteilt einer von ihnen - manifestiere sich „eine konservative Kraft des Festhaltens an Idee und Ziel der Naturforschung - im Gegensatz zu dem dynamischen, infiniten, sich ständig verändernden Prozeß des empirischen Naturwissens“[26]. Man könnte das Gegenteil behaupten: demnach stünde das Festhalten an partikularistischen Formen empirischen Naturwissens einem tatsächlichen Wissenszuwachs im Wege. Humboldt verlässt die Wissenschaft jedenfalls nicht in regressiver Richtung. Aber er widerspricht ihrem Erkenntnismonopol, überschreitet konsequenterweise ihre „Außengrenzen“ und begibt sich auf metarationales Gebiet. Wissenschaftliche Erkenntnis soll nicht - wir haben es schon zitiert - „das Gefühl erkälten, die schaffende Bildkraft der Phantasie ertödten“ (K 18).

Bezugsrahmen dieses Denkens ist ein Ganzes, das sich nicht in den Weiten des Welt-Alls verliert, ein Ganzes, das sich als humanisierbar erweist. Humboldt möchte die volle Bandbreite menschlicher Kognition berücksichtigen. Dabei geht es nicht um Restauration alter Naturphilosophie, sondern um epistemische Mobilisierung des Menschen in all seinen Möglichkeiten. Es betrifft die Totalität eines empirischen Wesens, diesseits kosmologischer Spekulationen. Wenn Humboldt von der Erkenntnis des Naturganzen spricht, stellt er sich eine Aufgabe, bei der der Maximierung des Naturwissens die Maximierung epistemischer Zugänge vorausgeht.

Es sei hervorgehoben: die Ganzheitlichkeit Humboldts ist auch ein anthropologisches Faktum. Um die Erkenn- und Darstellbarkeit von Welt zu verifizieren, erkundet der Forscher verschiedene mimetische Operationen, verschiedene Mittel, mit denen man größere Zusammenhänge erfassen kann; und diese Mittel entsprechen verschiedenen Lebensfunktionen des Menschen, die komplementär zum Einsatz kommen. Kritiker würden jedoch kaum anders reagieren als auf die Kosmos-Idee: der diskreditierten Ganzheitsvorstellung stünde nun die Dekonstruktion der Persönlichkeit entgegen. Humboldts Bemühen gliche abermals der Jagd nach einem Phantom, einer Schimäre. Totalität ließe sich hier nur noch ex negativo im totalen Sinnverlust einlösen.

Wollten wir Humboldts Entwurf einer physischen Weltbeschreibung heute kritisch, aber möglichst unvoreingenommen diskutieren, dann würden einzelne Komponenten - wissenschaftlicher oder künstlerischer Art - bestimmt eine Korrektur erfahren (und unser Protagonist hätte es nicht anders erwartet). Es gibt einen anderen Stand der Wissenschaft, auch unsere Vorstellungen vom Verhältnis Bild - Natur haben sich grundlegend geändert. Was aber uneingeschränkt seine Bestätigung fände, sogar noch mehr Aktualität als im vorletzten Jahrhundert beanspruchen könnte, ist das Projekt einer Erkenntnis des Naturganzen. Hier weist Humboldt in die Zukunft. Auch heute müssen Kunst und Wissenschaft in dieser Hinsicht komplementäre Funktionen übernehmen.




[1] Alexander von Humboldt, Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, ediert und mit einem Nachwort versehen von Ottmar Ette und Oliver Lubrich (= Die Andere Bibliothek, hg. v. Hans Magnus Enzensberger), Eichborn, Frankfurt a.M. 2004. Da dieses Werk die primäre Quelle unserer Abhandlung darstellt, setzen wir die Seitenzahlen (mit dem Buchstaben K für Kosmos) in den Haupttext ein.

[2] Das Werk erschien erstmals 1808, in jeweils erweiterter 2. und 3. Auflage 1826 und 1849.

[3] Jakob Henle, Allgemeine Anatomie: Lehre von den Mischungs- und Formbestandtheilen des menschlichen Körpers, Leipzig 1841, zit. n. Humboldt, Ansichten der Natur (= Die Andere Bibliothek, Bd. 17, hg. v. H. M. Enzensberger), Franz Greno, Nördlingen 1986, S. 433.

[4] Humboldt, ebenda.

[5] Andreas W. Daum ist der Auffassung, Humboldt habe ein letztes Mal „Gedanken aus den holistischen und organizistischen Entwürfen der deutschen Naturphilosophie mit dem empirisch-analytischen Ansatz der modernen Naturwissenschaft“ zusammengebunden (Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1848 - 1914, Oldenbourg, München 1998, S. 272). Mit dieser Aussage manifestiert der Autor nicht Humboldts, wohl aber sein eigenes Wissenschaftsverständnis.

[6] Die Herkunft des Zitats ist mir bis dato nicht bekannt.

[7] Ottmar Ette spricht von einem „Mobile der Weltfragmente“ (Ette, Alexander von Humboldt und die Globalisierung. Das Mobile des Wissens, Insel, Frankfurt a.M./ Leipzig 2009, S. 374 ff.). Die Mobile-Metapher ist in mehrerer Hinsicht zutreffend, als Spiel, als Kunstform, als Balancierungsakt etc.

[8] Werner Heisenberg, Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik, Piper, München 1969, S. 10.

[9] Ebenda, S. 317.

[10] Ebenda, S. 318.

[11] Ebenda, S. 319.

[12] Siehe Joachim Noller, Kleine Philosophie der musikalischen Moderne. Musik und Ästhetik im 20. Jahrhundert, Röhrig, St. Ingbert 2003, darin: I. Ästhetisches Denken und Musik, S. 25 ff.

[13] Brief an Varnhagen vom 28. April 1841, in: Ludmilla Assing (Hg.), Briefe von Alexander von Humboldt an Varnhagen von Ense aus den Jahren 1827 bis 1858. Nebst Auszügen aus Varnhagen’s Tagebüchern und Briefen von Varnhagen und Andern an Humboldt, 2. Auflage, Brockhaus, Leipzig 1860, S. 91 f.

[14] Brief an Varnhagen vom 30. November 1845, ebenda, S. 186.

[15] Barker (Humboldt übernimmt die in einigen deutschen Publikationen verwendete Schreibweise: Parker) prägte den Begriff Panorama für entsprechende Rundgemälde auf zylindrischer Oberfläche.

[16] Wenn man Humboldt - wie dies mehrfach geschehen ist - Ästhetisierung vorwirft, dann sollte der Kontext neuzeitlicher Wissenschaft (und nicht nur der Kunst) Beachtung finden. Humboldt ästhetisiert insofern, als die Wissenschaft solches von ihm fordert.

[17] „Während in der Tradition der philosophischen Theorie bis in die Epoche der Wende zur Neuzeit hinein der vernünftige Begriff allein und als solcher die ganze Natur als Kosmos zu vergegenwärtigen vermag, ist für Alexander v. Humboldt das, was er [..] ‚Weltanschauung‘ nennt, nunmehr auf die ästhetische Vermittlung verwiesen“ (Joachim Ritter, Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft [1963], in: ders., Subjektivität. Sechs Aufsätze, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1974, S. 152 f.). Dieser Satz und die damit verbundene Denkrichtung Joachim Ritters wären zu hinterfragen, da es nicht nur um ästhetische Vermittlung geht, sondern auch um die empiristische Prämisse. Dass der vernünftige Begriff einst die ganze Natur zu vergegenwärtigen vermochte, ist eine philosophiehistorisch fokussierte und nicht allgemeingültige These, die perspektivisch erweitert und damit auch relativiert werden müsste.

[18] Carl Gustav Carus, Neun Briefe über Landschaftsmalerei, geschrieben in den Jahren 1815-1824, Fleischer, Leipzig 1831, S. 120.

[19] An dieser Stelle sei auf die Darstellung menschlicher Figuren in Humboldts Publikationen, d.h. in entsprechenden Abbildungen verwiesen. Die Funktion der Menschendarstellung müsste gesondert diskutiert werden. Mit Recht wird Humboldts aufklärerische, gesellschaftlich engagierte, emanzipatorische Haltung hervorgehoben. Man lese die Deutung der 5. Tafel der Vues des Cordillères mit dem Titel Passage du Quindiu, dans la Cordillère des Andes (in: Oliver Lubrich [Hg.] unter Mitarbeit v. Sarah Bärtschi, Alexander von Humboldt. Das graphische Gesamtwerk, Lambert Schneider, Darmstadt 32016, S. 17 f., Abb. S. 61). Doch anstelle allzu bemühter political correctness wäre ein Vergleich bildlicher Darstellungen mit dem sprachlich artikulierten Menschenbild hilfreich, z.B.: „Wenn aber in der Steppe Tiger und Crocodile mit Pferden und Rindern kämpfen; so sehen wir an ihrem waldigen Ufer, in den Wildnissen der Guyana, ewig den Menschen gegen den Menschen gerüstet. Mit unnatürlicher Begier trinken hier einzelne Völkerstämme das ausgesogene Blut ihrer Feinde; andere würgen, scheinbar waffenlos und doch zum Morde vorbereitet, mit vergiftetem Daum-Nagel. Die schwächeren Horden, wenn sie das sandige Ufer betreten, vertilgen sorgsam mit den Händen die Spur ihrer schüchternen Tritte. So bereitet der Mensch auf der untersten Stufe thierischer Roheit, so im Scheinglanze seiner höheren Bildung sich stets ein mühevolles Leben. So verfolgt den Wanderer über den weiten Erdkreis, über Meer und Land, wie den Geschichtsforscher durch alle Jahrhunderte, das einförmige, trostlose Bild des entzweyten Geschlechts“ (Humboldt, Ansichten der Natur, S. 36 f.). Dies ist nur ein aus dem Zusammenhang genommenes Zitat, aber es zeigt, von welcher Skepsis Humboldt zeitweise durchdrungen ist. Er verfällt jedenfalls nicht von einem damals noch national geprägten Eurozentrismus in eine Ethno-Euphorie. Humboldt erschaudert vor brutalen Verhaltensweisen amerikanischer Ureinwohner, versucht sich dabei nicht in ideologischen Legitimationen, geht aber gleichzeitig auf Distanz (zumindest in diesem Kontext) zur großen Alternative europäischer Bildung.

[20] Paul Klee, Schöpferische Konfession, in: ders., Kunst - Lehre. Aufsätze, Vorträge, Rezensionen und Beiträge zur bildnerischen Formlehre, hg. v. Günther Regel, Reclam, Leipzig 31995, S. 60, 63.

[21] Emilio Tadini, Das Auge der Malerei, Die Galerie, Frankfurt a.M. 2002, S. 82 f.

[22] Bekanntlich enthalten Humboldts Publikationen zahlreiche Abbildungen, die in Kooperation des Autors mit künstlerisch befähigten Mitarbeitern entstanden sind (siehe das graphische Gesamtwerk in: Lubrich [Hg.], a.a.O.). In diesem Kontext stellt sich die Frage, ob bzw. in welchem Umfang Abbildungen als „freie Kunstwerke“ zu klassifizieren wären (in ästhetischer Analyse gemäß den Kriterien damaliger Zeit).

[23] Siehe Humboldt im Briefwechsel mit Carl Gustav Carus, dargelegt in: Petra Werner, Naturwahrheit und ästhetische Umsetzung. Alexander von Humboldt im Briefwechsel mit bildenden Künstlern, Akademie, Berlin 2013, S. 155 f.

[24] Werner, ebenda, S. 121.

[25] Brief an Varnhagen vom 24. Oktober 1834, in: Assing (Hg.), S. 23.

[26] Hartmut Böhme, Ästhetische Wissenschaft. Aporien der Forschung im Werk Alexander von Humboldts, in: Ottmar Ette, Ute Hermanns, Bernd M. Scherer u. Christian Suckow (Hgg.), Alexander von Humboldt - Aufbruch in die Moderne, Akademie, Berlin 2001, S. 19.

 

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