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http://www.ars-mimetica.org/projekt-mimesis/praesenz-theorie/     © Joachim Noller 2012

 

Joachim Noller

Wie „präsent“ sind ästhetische Gefühle?

 

Wenn wir nach Schlagwörtern suchen, die die ästhetischen Diskussionen der Jahrtausendwende bestimmen, dann steht der Terminus Präsenz in vorderster Reihe[1]. Nicht nur die Ästhetik, die Philosophie ganz allgemein scheint dadurch inspiriert. Dieses Denken in seiner ganzen Bandbreite darzustellen,  kann nicht unsere Aufgabe sein; der Aufsatztitel deutet an, worauf sich unser Diskurs thematisch fokussiert[2]: Hilft die Präsenz-Theorie, ästhetische Emotionalität zu verstehen, kann sie auch für das musikalische Gefühlsdenken Aktualität beanspruchen?  Auf solche Fragen eine Antwort zu skizzieren, das  ist – vielleicht schon allzu prätentiös - unser Ziel, der Weg dorthin bewegt sich, wie so oft, auf labyrinthischer Bahn.

Präsenz wird gerade auf ästhetischem Gebiet dem „Repräsentieren“ gegenübergestellt, ja bisweilen erscheint die postulierte Funktion des Präsent-Seins gar als Antidoton gegen vermeintliche  Gefahren einer Darstellung, bei der das Dargestellte durch künstlerische Mittel lediglich vertreten wird, sei es abbildhaft oder in einer Konstellation von Zeichen. Dabei wird Repräsentation zu einem schillernden Begriff, der von allen Seiten Kritik erfährt: es ist das Darstellen, das die Kunst in ein Abhängigkeitsverhältnis zum Darzustellenden bringt, es ist das Darstellen als Vermögen, das die moderne Kunst jedoch verloren hat, es ist das Darstellen, das immer Selbstdarstellung bedeutet und damit eine gewisse Machtstruktur etabliert, schließlich folgt der Darstellung die Deutung, die sich nur in sprachlichen Subtexten erschließt und deshalb eine Fülle an sich verselbständigenden Sprachmaterialien generiert. Das sind – stichwortartig - einige Merkmale des Gefahrenguts Repräsentation. Repräsentation meint die Darstellung von etwas, was nicht da ist. Könnten die Gefahren nicht gebannt werden durch Hervorhebung all jener „Objekte“, die im Kunstwerk vorhanden sind und dabei nicht als Vertreter eines Abwesenden fungieren?

Was ist nun der Gegenstand solcher Präsenz, was darf als präsent gelten, was genügt sich quasi selbst und verweist nicht zeichenhaft auf anderes. Wir könnten die Ausführungen der Theoretiker heranziehen, doch kommt uns sofort in den Sinn, daß Künstler des 20.Jahrhunderts schon Jahrzehnte vor den Philosophen versucht haben, auf diese Fragen eine Antwort zu geben. Könnte nicht die sogenannte abstrakte Kunst und Malerei als Ästhetik der Präsenz gewertet und damit einem auch heute noch neuen Verständnis zugeführt werden? Da verzichtet man auf herkömmliche Darstellungsfunktionen, da wird auf die Materialien, auf die Farben, auf das, was da ist, aufmerksam gemacht und – so könnte man jedenfalls meinen - nicht auf etwas Abwesendes verwiesen. Dazu gehört die Art und Weise, wie Farben aufgetragen werden, dazu gehört ihre Form, die im herkömmlichen Sinn nichts repräsentiert, gleichwohl aber eine Verwandtschaft zu ähnlichen Formen unserer Wirklichkeit aufweist. Da lassen sich Bedeutungen und Sinnbezüge erahnen, die nicht mehr der  repräsentativen Funktion traditioneller Art zu verdanken sind.

Nehmen wir als Beispiel den Maler Willi Baumeister (1889-1955), der in seiner als Streitschrift verfaßten Abhandlung „Das Unbekannte in der Kunst“ die Eigenkräfte künstlerischer Ausdrucksmittel dem alten Zweck der Abbildung gegenüberstellt. Der Künstler folge einer Vision oder glaube ihr zu folgen, „aber sein unter diesem Stern begonnenes Werk entwickelt, während es entsteht, eigenständige Kräfte wachsender Intensität. Innerhalb des Vorgangs der künstlerischen Handlung gibt es demnach einen Punkt, in dem die Vision mit der Formbildung sich so schneidet, daß eine Umkehrung der zwei Intensitäten merkbar wird. Proportional mindert sich die Wirkung der Vision gegenüber den anschwellenden Formkräften“[3]. Da hat es also zunächst den Anschein, als würde der Künstler seine innere Vision zur Darstellung bringen, als würde das künstlerische Produkt diese Vision voll und ganz repräsentieren (demnach wäre auch das abstrakte Gemälde Repräsentationskunst) . Doch während dieser Vorgang schon im Gange ist, bricht sich etwas anderes Bahn: etwas, was vom Künstler so nicht programmierbar ist; umschrieben wird es als eine Art Kraftfeld, das formbildend wirkt und dessen Intensität im künstlerischen Schaffensakt zunimmt.  An anderer Stelle heißt es: „Das Wesentliche jeder bedeutsamen Kunsterscheinung liegt in dem Hervorbrechen immer neuer Formungen, aus denen die Welt des Sichtbaren unsichtbar besteht“[4]. Das Ergebnis jenes Kraftfelds, besagte Formkonstellation, ist nicht exklusiv dem Kunstwerk vorbehalten, da es sich um Formen handelt, die unserer Welt in allen Bereichen eigen sind, die im Kunstwerk aber – und das ist seine Aufgabe –  sinnlich wahrnehmbar werden (d.h. daselbst die Wahrnehmungsschwelle überschreiten). Kunst nimmt teil an einem Kräftespiel, und die Art und Weise, wie sie solches tut, unterscheidet sich von anderen Wirklichkeitsbereichen lediglich im Grad der Intensität. Das Verhältnis von Kunst und Welt (das alte Problem der Mimesis) ist hier durch Partizipation, nicht durch Repräsentation charakterisiert[5]

 

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In den ästhetischen Theorien des 20.Jahrhunderts ist die Hinterfragung  künstlerischer Darstellungsfähigkeiten allgegenwärtig; und daran knüpft sich eine kritische Sicht auf die semantische Potenz künstlerischer Formen. Wer an der künstlerischen Repräsentation von Welt zweifelt, wird der Kunst kaum zugestehen, den Sinn dieser Welt aufzufangen. Solche Gedankengänge können in einem totalen Nihilismus enden, der in gegenwärtiger Kunst nur noch die Apotheose geistig nobilitierter Sinnlosigkeiten erkennt. Sollten wir den Versuch wagen, diesen Negativtrend umzukehren, bleibt dennoch ein Zusammenhang bestehen:  wer die Darstellungsqualität problematisiert, kann die Bedeutungsebene nicht auszuklammern.

Theoretiker, die solche Denkwege als Erfahrung verbuchen, ihren Sackgassen jedoch zu entkommen suchen, greifen Elemente dieser Diskussion auf,  belassen es aber nicht bei der Non-Sense-Proklamation, sondern stellen ihr eine andere Kategorie gegenüber, und das geschieht unter dem Oberbegriff der Präsenz.  So spricht Hans Ulrich Gumbrecht von einem Spannungsverhältnis zwischen Präsenz und Bedeutung, von der „Oszillation zwischen Präsenzeffekten und Bedeutungseffekten“[6]. Präsenzeffekte werden vor allem der Musik zugestanden; der Autor versucht entsprechende Wahrnehmungen zu kommunizieren, z.B. „jene überströmende Süße […] die mich manchmal überkommt, wenn eine Mozart-Arie zu polyphonischer Komplexität anwächst und ich glaube, die Töne der Oboe mit meiner Haut zu hören[7]; beim Musikhören dominiere die Dimension der Präsenz, obwohl „bestimmte musikalische Strukturen bestimmte semantische Konnotationen hervorrufen können“[8].

Worin besteht nun diese Dimension? Da gebe es eine Ebene, die nicht über das Verstehen, über die Interpretation, über die Bedeutungszuschreibung funktioniert, die „nichts Erbauliches, keine Botschaft, nichts, was wir lernen könnten“ enthält: Gumbrecht hebt die Exklusivität von  ganz besonderen Momenten „ästhetischen Erlebens“ hervor, von „Augenblicken der Intensität“, die jenseits jeder Alltagserfahrung liegen[9] (man vergleiche die Wortwahl bei Baumeister). Und dieses ästhetische Erleben helfe uns dabei „die räumliche und körperliche Dimension unseres Daseins wiederzuerlangen“ , zumindest aber möge sie uns davor bewahren, „die Erinnerung an die körperlich-räumliche Dimension unseres Lebens vollständig zu verlieren“[10]. Immer wieder, nicht nur von Gumbrecht, wird betont, daß Präsenzeffekte einen body effect haben, der körperliche Wahrnehmung und entsprechende Eigenempfindung zur Geltung bringt. Bei einigen Theoretikern sind solche Gedanken einem konventionellen Materialismus verpflichtet, nicht so bei Gumbrecht, der zur Beschreibung jener außerordentlichen Erlebensebene Begrifflichkeiten wie Epiphanie und Eucharistie (die Gegenwart des Leibes Christi im Abendmahl) heranzieht und damit spirituelle Elemente ins Spiel bringt. Es ist eine Leiberfahrung, die sich offensichtlich nicht selbst genügt. Die Frage hat sich also noch nicht erledigt: worin Präsenzeffekte eigentlich bestehen, wie wir sie sprachlich fassen und konkretisieren können (auch wenn „Erfassung“ sich hier möglicherweise auf bloße Andeutungen beschränkt).

Baumeister und Gumbrecht sprechen beide von einer besonderen „Intensität“. Man könnte fragen, worin diese Intensität im Kunstwerk, als dessen Eigenschaft, besteht, doch die Antwort fällt offensichtlich schwer. Was aber verifizierbar erscheint, ist die Wirkung dieser Intensität in der Psyche des Rezipienten, also Intensität, insofern sie sich auf rezeptionsästhetischer Seite manifestiert.   „Ebenso wie die Farbe erfaßt die Form gewisse Erregungszonen der Betrachters. […] Ungegenständliche Kompositionen sind in gewissem Sinne Parallelen zu Fugen von Bach oder Konzerten von Mozart, zu aller reinen Musik überhaupt. In ihnen werden die menschlichen Gefühle nicht vorgeschrieben und festgelegt, denen man wie beim inhaltsbeschwerten Lied sich ausliefern soll. Die Gefühle und Empfindungen werden bei der Formkunst (in Musik und Malerei) vom Hörer oder Beschauer selbständig entwickelt“[11].  Die neue abstrakte Kunst, die nicht mehr mit herkömmlichen Darstellungsmitteln operiert, läßt sich  – so Baumeister – in emotionaler Wirkungsdifferenz nachweisen. Vorherrschende Präsenzeffekte erzeugen also eine differente Gefühlskultur. Und Gumbrecht argumentiert zwar als Kulturwissenschaftler anders, aber mit derselben Zielrichtung. Das in abstrakter Begrifflichkeit als Intensität Bezeichnete ist als Gefühl  konkretisierbar;  expressis verbis wird eine Erneuerung körperlich-räumlicher Erfahrung  angestrebt,  aber die Räume, die sich auftun, sind vor allem Gefühlsräume: ästhetisches Erleben möge uns „das Gefühl eines In-der-Welt-Seins“ wiedergeben, „das Gefühl, zur physischen Objektwelt zu gehören“; ästhetisches Erleben möge uns in Zustände versetzen, die als „prononciertes Gefühl von Ruhe, Gelöstheit oder Gelassenheit“ beschrieben werden[12]. Hier deutet sich eine ethische Zweckbestimmung an, die keineswegs vordergründig, aber dennoch vorhanden ist: mit der Eröffnung solcher Gefühlsräume  scheint gar ein kathartischer Prozeß in Gang gesetzt.

 

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Es ist allzu bekannt, daß man neue Paradigmen weniger durch Beschreibung ihrer selbst als durch Abgrenzung gegenüber ihrem jeweiligen Vorgängermodell definiert. Dementsprechend wird in unserem Fall die Befreiung präsenzbetonter Emotionalität von kognitiver Bevormundung propagiert.  „Der Empfindungswert oder der Eindruck einer Farbform soll nicht schnell ins Begriffliche umgedeutet werden“, schreibt Baumeister, Gefühle sollen sich nicht in ihrer Deutung und Erklärung auflösen. Gumbrecht klärt die Fronten durch eine antagonistische Gegenüberstellung von Präsenz- und Bedeutungseffekten. Was wir in unserer „so bedeutungsgesättigten Welt vermissen“ würden, seien „Phänomene und Eindrücke der Präsenz“[13].  Wenn also die Präsenz eine von kognitiver Überlastung befreite Emotionalität ermöglicht, dann stellt dieses Konzept emotionspsychologische Tendenzen der letzten Jahrzehnte auf den Kopf: ereignete sich nicht im 20.Jahrhundert eine sogenannte kognitive Wende, als man (d.h. der wissenschaftliche mainstream) dazu überging, Emotionen primär über kognitive Funktionen zu definieren, als Emotionalität in die Weltdeutungsmaschinerie eingefügt wurde. Präsenzphilosophisches Denken scheint diese Tendenz in Frage zu stellen, in einigen Äußerungen sogar umzukehren: das Fühlen soll den Bewußtmachungszwängen  des (kunst- oder kulturschaffenden) Intellektuellen wieder entrissen werden.

Im wissenschaftlichen Musikdenken wurde die kognitive Ebene weitgehend deemotionalisiert, der alte Gemeinplatz von musikalischer Gefühlshaltigkeit schien verdrängt, verlor, obwohl hochkultureller Weihen entledigt, dabei aber nie seine Virulenz.  Daß die nicht-psychologische Musikwissenschaft das ästhetische Erleben, die Affektivität in ihrer ganzen Bandbreite miteinbezöge, wäre innovativ und könnte von der Präsenzphilosophie inspiriert werden. In altmusikologischer Sichtweise sei – wie Ulrich Tadday hervorhebt -  die Subjektivität und Individualität des Rezipienten „vor der vermeintlich objektiven Instanz der ästhetischen Rationalität vom Diskurs ausgeschlossen“ worden[14]. Demgegenüber müsse, weil sich musikalischer Sinn zuerst  „in der jeweiligen Individualität des Rezeptionsaktes herstellt“, letzterer „an den ästhetischen Diskurs gekoppelt werden, wenn er sich nicht von seinem Gegenstand entfremden soll“.  Postuliert wird demnach „die diskursive Koppelung der Musik an die Lebenswelt und  -wirklichkeit ihrer Rezipienten“[15].  Diese Zeilen lesen wir in einem Handbuch zur Musikästhetik unter der Kapitelüberschrift: „Situation-Medien-Erfahrung. Zu einer Ästhetik der Präsenz“. Es ist freilich abzuwarten, wie Musikwissenschaft ästhetisches Erleben in seiner tragenden Rolle nicht nur anerkennt, sondern tatsächlich in einen Diskurs miteinbezieht, der auf das Werk an sich und seine Rezeption bezogen ist und nicht allein in spezifisch musikpsychologischem Interesse begründet liegt.

 

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Präsenzphilosophie revalorisiert Emotionalität als autonome Kategorie, die sich gleichwohl nicht nur durch Selbständigkeit, sondern auch durch anthropologische Verhältnisbestimmungen auszeichnet; so stellt sich die Frage nach dem Verhältnis gerade zu jenen Kategorien, denen das Gefühl aus alt-moderner Sicht untergeordnet ist: Was hat es mit jener Körperlichkeit auf sich, die dem Denken (bisweilen plumpe) Festigkeit verleiht, der Gumbrecht aber einen sinnhaften Mehrwert abgewinnt, wenn er sich auf die christliche Eucharistie als exklusive Leiberfahrung beruft und so Körperlichkeit mit transzendentalen Assoziationen auflädt. Das ist mein Leib, das ist mein Blut, sagt Christus, als er mit den Jüngern Abendmahl feiert, und bekanntlich beharrte der Reformator Martin Luther auf dieses „Sein“, während andere das Geschehen auf eine symbolische Bedeutungsebene übertrugen.  Gibt es eine Konzeption von Körperlichkeit, die sich als radikale, vielleicht die radikalste Form der Metaphysik behaupten könnte. Sollte man nicht weitergehen in der biblischen Lektüre und von der Abendmahlsgeschichte zu jener Stelle gelangen, als der auferstandene Christus  nicht mehr an Raum und Zeit gebunden war, den ungläubigen Jünger Thomas jedoch aufforderte, die Hand in seine, also Christi Wundmale zu legen, d.h. die Realität der Kreuzigung an einem Körper zu verifizieren, der nicht mehr den Gesetzen dieser Welt unterlag. Körperlichkeit als im wahrsten Sinne übergeordnete physisch/metaphysische Kategorie müßte zu paradigmatischer Inanspruchnahme  geradezu herausfordern.

Andererseits wird das Präsenzdenken durch Körperlichkeitspostulate unterhöhlt, die nicht der Beschreibung augenblicklich erlebter Intensität dienen, sondern nur als Teil einer Erklärungsstrategie fungieren;  demnach wäre die Betonung des Körperlichen nicht faktisch, sondern nur ideologisch begründet: ein zeitgeistig-konformistischer Körper- ersetzt den Seelenkult und damit jene Innerlichkeitsmetaphorik, mit der einst Augenblicke der Intensität umschrieben wurden. Und sollte Körperlichkeit zu einer Erklärungsstrategie gehören, dann ließen sich entsprechende Äußerungen auch als Akt kognitiver Einordnung begreifen.

Präsenzerlebnisse vollziehen sich nie in kognitionsfreiem Raum; die Rolle des Kognitivem (und damit im Rahmen ästhetischer Theorie auch seiner hermeneutischen Anwendung) müßte gerade im Verhältnis zur Emotionalität neu überdacht werden: steht nicht jeder Präsenzeffekt im Kontext zahlreicher Bedeutungseffekte? Dies gilt auch für die Musik, die immer wieder als  Modell einer darstellungsfreien Kunst exponiert wird. Wenn es bei Gumbrecht den Anschein hat, als würde die dominante „Präsenz“ der Musik durch „semantische Konnotationen“ gleichsam gestört, dann drängt sich die Frage auf, ob es diese Musik, ob es ein Hören gibt ohne semantische Konnotationen. Augenblicke der Intensität mögen sich der Rationalisierung von Bedeutungsgehalten, aber nicht der Bedeutung schlechthin entziehen, schließlich sind es auch Momente emphatischer Sinngebung.

 Die Emanzipation des Erlebnisfaktors  wird in ästhetischen Diskursen der Zukunft eine große Herausforderung sein,  die aber nur unter Berücksichtigung anderer Faktoren zu bewältigen ist.  Möge uns das Bemühen um anthropologische Balance[16] davor bewahren, in „gefühlsästhetische“ Manieren zurückzufallen, einer unwillkürlichen Kettenreaktion zu erliegen, die von der Notwendigkeit, Emotionales anzuerkennen, über die Unzulänglichkeit, es sprachlich zu erfassen, in die Falle abgestandener Pathosformeln führt. Sollten wir den Rat Baumeisters befolgen und von begrifflichen Konkretisierungen Abstand nehmen? Steht Wissenschaft hier abermals vor dem Dilemma, einer verleugneten Faktizität ihre Würde zurückgeben und andererseits das Faktische selbst verschweigen zu müssen? 

 

 

[1] Als Beispiel verweisen wir auf folgende Publikation (da sie unterschiedliche Beiträge enthält): Präsenzerfahrung in Literatur und Kunst. Beiträge zu einem Schlüsselbegriff der aktuellen ästhetischen und poetologischen Diskussion, hrsg.v. Marco Baschera u. André Bucher, Wilhelm Fink,  München 2008.

[2] Dieser Aufsatz ist als Teil einer Buchpublikation unter dem Arbeitstitel Gefühlsdenken in der Musik konzipiert.

[3] Willi Baumeister, Das Unbekannte in der Kunst, DuMont, Köln 1960, S.175; die zweite Auflage mit Korrekturen des Autors erschien postum, die erste datiert 1947.

[4]  Ebenda, S.184.

[5] In meiner Dissertation (entstanden 1983-86: Engagement und Form. Giacomo Manzonis Werk in kulturtheoretischen und musikhistorischen Zusammenhängen, Peter Lang, Frankfurt a.M. etc. 1987, S.33 f.) habe ich die unkonventionelle Denkweise Antonio Gramscis orthodox-marxistischen Positionen gegenübergestellt und diese Erörterung mit eigenen Gedanken zugespitzt: „Die Funktionalität des Ästhetischen zu behaupten, bedeutet aber, eine unterschwellige Selbstverständlichkeit in Frage zu stellen, eine Selbstverständlichkeit, die sich im Denken über das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit eingenistet hat: nämlich die unreflektierte Prämisse, Kunst von der sogenannten Wirklichkeit (hier liegt natürlich ein Bild der Wirklichkeit vor) zu trennen, sie auszulagern und ihr den Wirklichkeitscharakter streitig zu machen. Damit werden der Kunst Seinsqualitäten abgesprochen und im Gegenzug ihre ‚Scheinhaftigkeit‘ betont. Dem steht die Auffassung Gramscis entgegen, wonach auch die ästhetische Qualität an der [Wirklichkeit….] partizipiert“.

[6] Hans Ulrich Gumbrecht, Epiphanien (2003), in: ders., Präsenz, hrsg.v. Jürgen Klein, Suhrkamp, Berlin 2012,  S.341.

[7] Ebenda, S.333.

[8] Ebenda, S.343.

[9] Ebenda, S.333, 335.

[10] Ebenda, S.349.

[11] Baumeister, S. 62 f.

[12] Gumbrecht, S.349 f.

[13] Ebenda, S.339.

[14] Ulrich Tadday, Musikalische Körper – körperliche Musik. Zur Ästhetik auch der populären Musik, in: Musikästhetik, hrsg.v. Helga de la Motte-Haber, mit Eckhard Tramsen (= Handbuch der Systematischen Musikwissenschaft, Bd. 1), Laaber, Laaber 2004, S.406.

[15] Ebenda, S.407.

[16] Diskutiert wird diese anthropologische Balance (und die Schwierigkeiten eines funktionalen „Zusammenklangs“) in Kapitel II meiner Abhandlung Kleine Philosophie der musikalischen Moderne. Musik und Ästhetik im 20.Jahrhundert (Röhrig, St.Ingbert 2003, S. 121 ff.).