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© Joachim Noller 2006/ 2016

 

 

 

Joachim Noller

 

Superstringtheorie: Physik mit Musik

 

Die Superstringtheorie ist eines der großen Physikprojekte unserer Tage, ein work in progress, an dem seit Jahrzehnten gearbeitet wird. Der Begriff Superstring wurde semantisch dermaßen aufgeladen, dass es auch den beteiligten Forschern schwerfällt, die Theorie sprachlich angemessen darzustellen. Zu viel ist damit verknüpft: die Erklärung unserer materiellen Welt, ihres Aufbaus, ihrer Entstehung (man erhofft sich Aufschluss über den sogenannten Urknall und seine Folgen), die Zusammenschau bisher getrennter Aspekte (z.B. unterschiedlicher Kräfte), die Erweiterung unserer Denkkategorien (Strings bewegen sich in einem mehr-, z.B. 10-dimensionalen Universum). Bei allem Fortschritt, der aber noch vieler Beweise bedarf, haben sich alte Problemstellungen nicht erübrigt: immer noch befasst sich die Wissenschaft mit dem kleinsten, dem unteilbaren, im etymologischen Sinne atomaren Teilchen. Der Weg führte über Elektronen zu den Quarks, zu verschiedenen Arten von Quarks, zu einer postmodern anmutenden Unübersichtlichkeit. Man begab sich auf die Suche nach einem Prinzip, das die Teilchenvielfalt wieder vereinen sollte und stellte sich diese Einheit abermals als Teilchen vor, dieses Mal jedoch nicht als Element eines mikroplanetarischen Systems, als auf den Punkt geschrumpfte Kugelgestalt, sondern als Faden; und weil derselbe auf unterschiedliche Art zu schwingen vermag, wurde der Faden alsbald mit einer Saite verglichen (engl.: string = Faden oder Saite), die in Schwingungen versetzt und auf diese Weise zum Klingen gebracht werden kann. Die verschiedenen Elementarteilchen, die man schon kennt oder die man wissenschaftlich postuliert (nicht nur Elektronen und Quarks, sondern auch Photonen oder das noch nicht verifizierte Graviton, das „Schwerkraft-Teilchen“), würden demnach durch verschiedene Schwingungszustände des einen und einzigen Basisteilchens, des Strings, hervorgebracht; anders ausgedrückt: ein String würde, je nach dem, in welchen Schwingungszustand es versetzt wird, die Eigenschaften eines Elektrons, Photons etc. annehmen, als solches fungieren, sich als solches darstellen. Superstringtheoretiker exemplifizieren diese Multifunktionalität mit der Geigen- oder Gitarrensaite, die unterschiedliche Töne, gemeint sind in erster Linie: Tonhöhen von sich geben kann. Bleiben wir in der Logik des Bildes, so wird die Saite jedoch nicht von außen bespielt, sondern „wählt“ sich in natürlicher Systemimmanenz einen von vielen möglichen Tönen. Nicht die Tonhöhengestaltung durch mechanische Einwirkung entspricht dieser Metaphorik, sondern das Spiel von Naturtönen, die klangliche Ausschöpfung eines Ober- oder Teiltonspektrums. Jeder Geigenton ist in Wirklichkeit ein Klang mit hörbarem Grundton und klangfarbenbestimmenden Obertönen. Beim Stringmodell könnte anstelle des Grundtons jeder Teilton Dominanz erhalten, würde durch bestimmte „Resonanz“-Phänomene in den Vordergrund gerückt, und die anderen Teiltöne wären phänotypisch außer Kraft gesetzt, aber doch genotypisch vorhanden.

Musizierende Strings - String-Symphonie - klingendes Universum: die Rede der Physiker und ihrer Kommentatoren gibt ein historisches Erbe zu erkennen, das, nach dem griechischen Philosophen Pythagoras und seiner Schule benannt, verwandlungsreich unser abendländisches Denken geprägt hat. In der Idee der Sphärenmusik, die zu den archetypischen Bildern europäischer Welt-Anschauung gehört, scheint der stringtheoretisch implizierte Harmonikalismus präfiguriert (und könnte durch esoterische Absichten gleichermaßen instrumentalisiert werden). Nach Pythagoras besteht der Kosmos aus 8 Sphären, denen die Planeten, soweit damals bekannt, einschließlich Sonne und Mond sowie - auf einer Sphäre zusammengefasst - der Fixsternhimmel zugeordnet werden. Auf jeder Sphäre, unterschiedliche Rotationsbewegungen ausführend, bringen Gestirne Töne hervor, die sich zur Sphärenharmonie ergänzen. Dieselbe besteht aus einer Tonleiter, die im Laufe pythagoräischer Tradition unterschiedlich interpretiert wurde (z.B. gemäß 7-stufiger Diatonik, wobei der 8. den 1.Ton oktaviert). Was erklingt, ist jedenfalls kein konsonanter Mehrklang, sondern ein Himmels-Cluster, der dem Hintergrundrauschen in Natur und Kosmos ähnlicher ist als euphonischer Musik. Das Tonmaterial stellt sich in toto dar, und mit ihm das zugrundeliegende Tonsystem, in Überein-Stimmung (wörtlich genommen) mit der kosmischen Ordnung. Sphärenklänge - auch auf symbolischer Ebene[1] - erweisen sich in einem derart strukturierten Zusammenspiel als harmonisch, nicht im Sinne traditioneller Klangkunst, aber gemäß einer holistischen, also ganzheitlichen Idee.

In der Superstringmetaphorik scheint „Sphärenharmonie“ auf radikale Weise eingelöst, als ein in Naturordnungen begründeter Spektralismus[2]: die Welt besteht aus Strings, die in verschiedenen Schwingungszuständen auftreten und dabei eine totale Musik hervorbringen, bei der das ganze Teiltonspektrum zur Entfaltung kommt. Uns interessiert nicht der musikologische Aspekt, sondern das, wofür Musik hier steht, für die Modalität dessen, was ist, und seiner Anschauung. „Elegant“ nannte Brian Greene, der maßgeblich an deren populärwissenschaftlicher Verbreitung beteiligt war, solche Ansätze zur einheitlichen Erklärung des Verschiedenen; vielleicht zu elegant, wenn man bedenkt, dass Kultur- und Sozialwissenschaften ein heterogenes oder gar „gebrochenes“ Weltbild als Basis authentischer Erkenntnis postulieren.

Doch Weltbilder werden auch von naturwissenschaftlicher Grundlagenforschung generiert, sollten in diesem Fall nicht nur wissenschaftshistorisch, sondern auch als Beitrag zum zeittypisch-kulturellen Bewusstsein erörtert werden. Ist die Superstringtheorie vielleicht einer gewissen „Harmoniesucht“, einem Homogenitäts- und Kohärenzzwang in der Science-Tradition geschuldet, während auf der anderen Seite menschlicher Geistestätigkeit, im Bereich arts, ebenso selbstverständlich wie selbstgefällig heterogene und dissoziative Eigenschaften verabsolutiert werden? Es mag verwundern (oder ist es nicht logisch komplementär?), wenn am Ende einer Kulturphase, die die Emanzipation der Dissonanz betrieben hat, ein harmonikales Weltbild angedacht wird. Leistet das Stringmodell Schützenhilfe gegen eine modernistisch-ritualisierte Ästhetik des zerbrochenen Spiegels und für einen konservativ-ahistorischen „Naturalismus“? Oder ermöglicht es eine neue Sicht auf die künstlerische Avantgarde des 20.Jahrhunderts, etwa auf die von Traditionalisten gehasste Symbolfigur Arnold Schönberg, bei dem Dissonanzen - als entfernte Obertonverhältnisse legitimiert - in die große tönende Harmonie aufgenommen wurden?

In der klassischen Moderne nahmen zahlreiche Literaten oder bildende Künstler die Musik zum Paradigma, um ihre Kunst in ein Spiegelverhältnis zur ganzen Welt, zu einer Seinstotalität zu bringen, während andere diese Ganzheit und ihre Darstellung als illusionär verwarfen. Der französische Musikologe Jules Combarieu z.B. schilderte eine tiefe Kluft, die die Stimmen der Natur von jenen der Menschheit trenne: „La Nature fait une musique large, pacifique, joyeuse, et le Monde, en voguant dans l’espace, est enveloppé d’harmonie. L’Humanité au contraire donne un son qui ‚grince‘, comme celui que produirait un archet d’airain sur une lyre de fer; ce n’est plus une symphonie: ce sont des cris!“[3]. Nach Combarieu hat Musik die Aufgabe, zu jener profunden Harmonie der Natur vorzudringen. Zur Zeit aber, als diese Abhandlung erschien (1907), standen namhafte Komponisten im Begriff, mit zunehmender Radikalität den menschlichen Schrei zu reflektieren; in künstlerischer Praxis und Theorie widmete man sich den „Stimmen der Menschheit“; und nicht wenige betrachteten die „Stimmen der Natur“ als historisches Relikt, wenn nicht gar als Konstrukt geistiger Verblendung. Vielleicht gibt die physikalische Forschung heute der Kunst einen Impuls, auf dass verdrängte Realitätsbereiche nicht nur ins Gedächtnis gerufen, sondern neu bewertet werden. Wer die String-Symphonie wahrnimmt, muss die Schreie der Menschen nicht überhören. Eine naturwissenschaftliche Theorie könnte kulturell relevant werden, während sie sich - mit offenem Ausgang - auf dem Prüfstand befindet.

 




[1] In Platons Staat werden Himmelssphären nicht mit irdischen Sinnen, sondern als Jenseitserfahrung wahrgenommen. Ihre metaphysische Qualität ist damit unterstrichen.

[2] Ein Vergleich mit der in den 1980er Jahren in Frankreich entwickelten Konzeption einer musique spectrale wäre aufschlussreich.

[3] Jules Combarieu, La musique - ses lois - son évolution, Paris 1907, S.335.

 

Version 2016